Artisten unter der Zirkuskuppel – Arbeitnehmer?

1. Kann die vertraglich vereinbarte Tätigkeit ihrer Art und den Umständen der Leistungserbringung nach sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch selbstständig – d. h. in freier Mitarbeit – erbracht werden, obliegt es der Ent­schei­dung der Vertragspartner, welchen Vertragstypus sie ihrer Rechtsbeziehung zugrunde legen. Diese Entscheidung ist im Statusrechtsstreit im Rahmen der bei jeder Statusbeurteilung erforderlichen Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

2. Bei der Statusprüfung hat das LAG als Tatsacheninstanz einen Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht hat die Würdigung des LAG nur daraufhin zu überprüfen, ob sie in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt.

3. Das zentrale Abgrenzungskriterium zwischen Arbeitsverhältnis und freier Mitarbeit ist die Weisungsfreiheit bzw. -gebundenheit des zu einer bestimmten Leistung Verpflichteten bei der Gestaltung seiner Tätigkeit (Zeitpunkt, Dauer, Art und Ort der Leistungserbringung, vgl. § 106 GewO). Ferner spielt u. a. eine Rolle, ob der Dienstnehmer verpflichtet ist, die Leistung in eigener Person zu erbringen, oder ob er Dritte in die Leistungserbringung einbinden darf. Letzteres ist ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.

4. Widersprechen sich Vereinbarung und tatsächliche Durchführung, ist Letztere entscheidend. Jedoch sind einzelne Vorgänge in der Vertragsabwicklung zur Feststellung eines vom Vertragswortlaut abweichenden Geschäftsinhalts nur geeignet, wenn es sich dabei nicht um untypische Einzelfälle, sondern um bespielhafte Erscheinungsformen einer durchgehend geübten Vertragspraxis handelt.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 11. August 2015 – 9 AZR 98/14

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Bild: Семен-Саливанчук / stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Beklagte betreibt einen Zirkus. Die vier Kläger bilden eine Artistengruppe, die, vertreten durch den Kläger zu 1, mit der Beklagten einen befristeten Vertrag vom 4.3.2011 bis zum 22.11.2011 über „freie Mitarbeit“ abschloss. Dieser Vertrag verpflichtete die Truppe zur Übernahme der Tätigkeiten „Hochseil“ und „Todesradnummer“ gegen ein Tageshonorar von 550 Euro. Der Vertrag konnte nach dessen § 8 Satz 1 mit Zweiwochenfrist gekündigt werden.

Der Kläger zu 1 verunglückte in der Premierenveranstaltung am 4.3.2011 und musste in der Folge stationär medizinisch behandelt werden. Die Kläger zu 2 bis 4 traten ohne den Kläger zu 1 noch ca. zwei Monate lang im Zirkus der Beklagten als Artisten auf. Nachdem sie festgestellt hatten, dass die Beklagte sie nicht krankenversichert hatte, stellten sie ihre Tätigkeit mit dem Hinweis ein, sie würden ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, sobald die Beklagte einen Versicherungsschutz nachgewiesen hätte. Diese kündigte daraufhin das Vertragsverhältnis fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Zeitpunkt, weil sich die Mitglieder der Truppe seit dem 21.6.2011 geweigert hätten, den Vertrag zu erfüllen.

Neben der Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist, begehrten die Kläger hilfsweise die Feststellung, dass sie Arbeitnehmer seien. Das LAG hatte der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Entscheidung

Auf die Revision der Beklagten hob der 9. Senat des BAG das Urteil auf und wies die Kündigungsschutzklage der Kläger ab. Es fehlte an einem Arbeitsverhältnis, da die Parteien ein freies Dienstverhältnis vereinbart hatten. Das LAG hatte hinsichtlich der Durchführung keine Tatsachen festgestellt, die eine abweichende Bewertung rechtfertigen.

Die präzise Beschreibung dessen, was die Kläger schulden, in § 1 des Vertrags belegt, dass die Beklagte nicht Arbeitnehmer einstellen, sondern für ihren Zirkus eine fest umrissene Leistung einkaufen wollte. Infolge der Leistungsbeschreibung verbleibt für ein die geschuldete Leistung ausgestaltendes Weisungsrecht der Beklagten, wie es für ein Arbeitsverhältnis kennzeichnend ist, kein Raum. Weder Art noch Inhalt der Aufführung waren von der Beklagten zu beeinflussen, ohne den in § 1 des Vertrags beschriebenen Leistungsgegenstand zu ändern.

Dem entspricht § 2 des Vertrags, wonach die Vertragspartner bei der Gestaltung ihrer Tätigkeit keinen Weisungen der Firma unterliegen. Die Verpflichtung der Kläger, darüber hinaus vor Sonderveranstaltungen bei der Animation des Publikums mitzuwirken und zu Beginn der Vorstellungen am Einlass sowie am Finale/an der Parade teilzunehmen, ergänzt den Leistungs­katalog, ohne ihn zu prägen. Auch die Vereinbarung über die Teilnahme der Kläger an Presse- und Public-Relations-Maßnahmen spricht nicht für ein Arbeitsverhältnis.

Gegen die Annahme eines Arbeitsverhältnisses spricht zudem der Umstand, dass die Kläger nicht verpflichtet waren, die geschuldete Leistung in Person zu erfüllen, vielmehr das Recht hatten, Dritte in die Leistungserbringung einzubinden. Schließlich erbrachten die Kläger ihre Leistungen im Wesentlichen unter Verwendung eigener Arbeitsgeräte. Hochseilanlage und „Todesrad“ stehen in ihrem Eigentum.

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Konsequenzen

Die klare und eindeutige Entscheidung des BAG ist sehr zu begrüßen, fällt sie doch in eine Zeit, in der die Begriffe des Arbeitnehmers und des Arbeitsvertrags (vgl. dazu bspw. Tuenger­thal/Andorfer, AuA 2/16, S. 9) intensiv diskutiert werden. Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ könnte neue Aktualität erlangen. Lt. einem Bericht in NZA 3/2016, S. XII hat die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young (EY) in einer Befragung von 400 Unternehmen und 2.455 Erwerbstätigen ermittelt, dass 28 % der Selbstständigen (mehr als 1,2 Mio.) nur scheinselbstständig sind. Die am meisten betroffenen Branchen sind die Bau- und Immobilienbranche (zu 60 %) sowie der Bereich IT/Telekommunikation (zu 43 %). EY empfiehlt den Unternehmen, die Prävention zu verstärken. So könnten sich Arbeitgeber besser vor arbeits- und sozialver­sicherungsrechtlichen sowie steuer- und strafrechtlichen Konsequenzen schützen.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist „Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis“. Anhaltspunkte hierfür sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers (Satz 2 der Vorschrift). Hinzuweisen ist auch auf § 2 Nr. 9 SGB VI. Danach sind Personen rentenversicherungspflichtig, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen und (!) auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind (sog. arbeitnehmerähnliche Selbstständige). Im Einzelfall kann es empfehlenswert sein, das Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV vor Beginn der Zusammenarbeit durchzuführen.

Praxistipp

Im Hinblick auf das Risiko, einen Scheinselbstständigen einzusetzen, lässt sich das vorliegende Urteil nutzbar machen. Dabei kann man von dem Grundsatz ausgehen, dass umso mehr für eine selbstständige Tätigkeit des Vertragspartners spricht, je inhaltlich anspruchsvoller diese ist. Hier kommt es also entscheidend auf den Punkt „Weisungsfreiheit oder Weisungsgebundenheit“ an. Das Urteil des 9. Senats zeigt dazu, dass nicht Weisung = Weisung ist, sondern differenziert werden muss (s. dazu die Ausführungen des BAG zu den „Nebenpflichten“ der Kläger).

Bezogen auf § 2 Nr. 9 SGB VI hat der Auftraggeber Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Auslastung des Vertragspartners. Wird dessen Arbeitskraft nur soweit in Anspruch genommen, dass ihm die Möglichkeit verbleibt bzw. für ihn die wirtschaftliche Notwendigkeit besteht, auch für andere Auftraggeber tätig zu werden, ist eine der beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Nr. 9 SGB VI nicht erfüllt.

In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, sicherheitshalber den Punkt ausdrücklich vertraglich zu regeln und auch zu kontrollieren, ob der Mitarbeiter sich daran hält. Soll er aber zu 100 % seiner Kapazität ausgelastet werden, kann er darüber hinaus mit Aufträgen „zugedeckt“ werden, so dass ihm, wenn er seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Auftraggeber erfüllen will, nichts anderes übrig bleibt, als zusätzlich geeignete Arbeitnehmer (wenigstens einen) einzustellen und entsprechend zu beschäftigen. Dann sind beide Voraussetzungen des § 2 Nr. 9 SGB VI nicht erfüllt.

Ist die Eigenschaft des Auftragnehmers als freier Mitarbeiter – wie im Falle der Zirkusartisten – ganz unzweifelhaft, kann auf die vorstehenden Empfehlungen verzichtet werden, zumal der arbeitnehmerähnliche Selbstständige seinen Rentenversicherungsbeitrag ohnehin selbst in voller Höhe tragen muss.

Dr. Wolf Hunold, Unternehmensberater, Neuss

Redaktion (allg.)

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