Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl

Die Sozialauswahl ist auch dann betriebsbezogen, wenn sich der Arbeitgeber ein betriebsübergreifendes Versetzungsrecht vorbehalten hat.
(Leitsatz des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 15.12.2005 - 6 AZR 199/05 § 1 Abs. 2, 3 KSchG, § 162 BGB

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Problempunkt

Der Kläger war seit 1973 bei der H KGaA beschäftigt, die an verschiedenen Standorten in Deutschland Kaufhäuser betreibt. Der Anstellungsvertrag für die vom Kläger zuletzt ausgeübte leitende Stellung enthält eine Klausel, nach der er sich mit einer Versetzung an einen anderen Dienstort einverstanden erklärt, wenn dies von der Unternehmensleitung nach pflichtgemäßem Ermessen beschlossen wird.

Im Jahr 2004 wurde über das Vermögen der H KGaA ein Insolvenzverfahren eröffnet und die Beklagte zur Insolvenzverwalterin bestellt. Sie entschloss sich, einige Filialen zu schließen, während andere zunächst fortgeführt werden sollten. Von der Schließung war auch die Niederlassung betroffen, in der der Kläger beschäftigt war. Die Beklagte kündigte deshalb das Arbeitsverhältnis. Der Mitarbeiter hält diese Kündigung für unwirksam, da eine betriebsübergreifende Sozialauswahl nicht stattgefunden hat.

Entscheidung

Nach der Entscheidung des BAG ist die Kündigung wirksam. Zwar gilt auch für den Insolvenzverwalter das Kündigungsschutzgesetz. Die Kündigung ist aber aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Insbesondere gibt es nichts bzgl. der Sozialauswahl zu beanstanden. Diese ist streng betriebsbezogen. Die vertragliche Vereinbarung eines betriebsübergreifenden Versetzungsrechts erweitert den Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Mitarbeiter nicht. Der Wortlaut des § 1 Abs. 3 KSchG ist eindeutig. Da die Kündigung nur durch dringende betriebliche Erfordernisse gerechtfertigt werden kann, sind auch nur Arbeitnehmer des von der betriebsbedingten Kündigung betroffenen Betriebes zu berücksichtigen. Das gesamte System der betriebsbedingten Entlassung ist betriebs-, nicht unternehmensbezogen. Dies gilt auch für die Sozialauswahl. Eine unternehmensbezogene Sozialauswahl würde die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers und die gerichtliche Überprüfung der Wirksamkeit wesentlich erschweren. Sie würde darüber hinaus zu unlösbaren Problemen im Rahmen der Beteiligung des Betriebsrates bei derartigen Maßnahmen führen. Die Erfurter Richter lassen auch das Argument nicht gelten, dass die Beschränkung der Sozialauswahl auf den Betrieb Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet, wenn im Arbeitsvertrag eine Möglichkeit der betriebsübergreifenden Versetzung vereinbart ist. Das Willkürverbot (§ 162 BGB) ist hinreichend, um einem missbräuchlichen Verhalten des Arbeitgebers bei Ausspruch einer Kündigung zu begegnen.

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Konsequenzen

Das BAG knüpft mit dieser Entscheidung an die Rechtsprechung des zweiten Senats (Urt. v. 2.7.2005 - 2 AZR 185/04) an. Das Direktionsrecht ist zwar grundsätzlich der Maßstab für die Reichweite der Sozialauswahl. Trotzdem ist sie auf den Betrieb begrenzt, auch wenn das Direktionsrecht betriebsübergreifend ausgestaltet ist. Diese Rechtsprechung eröffnet Missbrauchsmöglichkeiten, denn ein Arbeitgeber könnte durch betriebsübergreifende Versetzungen die nicht betriebsübergreifende Sozialauswahl beeinflussen. Dem lässt sich aber mit der allgemeinen Missbrauchskontrolle des § 162 BGB begegnen. Eine Unternehmerentscheidung, die rechtsmissbräuchlich nur das Ziel hat, die Sozialauswahl zu umgehen, ist willkürlich und unbeachtlich. Das BAG hat in diesem Fall Augenmaß bewiesen und insbesondere der Praktikabilität des Kündigungsrechts eine besondere Bedeutung beigemessen.

Praxistipp

Bei betriebsbedingten Kündigungen ist nur die betriebsinterne, nicht auch eine betriebsübergreifende Versetzungsmöglichkeit des betroffenen Arbeitnehmers zu prüfen. Da das BAG die Frage, ob vorformulierte Versetzungsklauseln der Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB standhalten, nicht entschieden hat, können solche Klauseln weiter verwendet werden. Das Risiko der Unwirksamkeit dieser Regelungen bleibt unverändert bestehen. Betriebsübergreifende Versetzungsklauseln schränken aber das Recht zur betriebsbedingten Kündigung nicht ein.

RA Dr. Reinhard Möller, Rechtsanwälte Bartsch und Partner, Karlsruhe

Redaktion (allg.)

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