Bezahlter Jahresurlaub nach Kurzarbeit

Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften
oder Gepflogenheiten – wie etwa einem von einem Unternehmen und seinem Betriebsrat vereinbarten Sozialplan –, nach denen der Anspruch eines Kurzarbeiters auf bezahlten Jahresurlaub pro rata temporis berechnet wird, nicht entgegenstehen.

 

EuGH, Urteil vom 8. November 2012 – C-229/11 „Heimann“ (Parallelsache: C-230/11 „Toltschin“)

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Bild: grafikplusfoto/stock.adobe.com
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Problempunkt

Bei Kurzarbeit sind die gegenseitigen Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis nach Maßgabe der Arbeitszeitverkürzung ausgesetzt. Formell besteht gleichwohl ein Vollzeitarbeitsvertrag. Das ArbG Passau ersuchte den EuGH um Klärung der Frage, ob die Kürzung von Urlaubsansprüchen entsprechend der Kürzung der Arbeitszeit mit europarechtlichen Grundsätzen in Einklang steht.

Entscheidung

Die Kaiser GmbH entschloss sich wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten zum Personalabbau und kündigte den Mitarbeitern Heimann und Toltschin, den Klägern des Ausgangsverfahrens. Der Sozialplan sah vor, die Arbeitsverträge der entlassenen Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Ablaufs der jeweiligen Kündigungsfrist um ein Jahr zu verlängern, die gegenseitigen Leistungspflichten jedoch im Wege von „Kurzarbeit Null“ zu suspendieren. Die betroffenen Arbeitnehmer erhielten für diesen Zeitraum Kurzarbeitergeld.

Mit dem Ende der Beschäftigungsverhältnisse verlangten die Kläger Urlaubsabgeltung. Kaiser vertrat die Auffassung, dass den Klägern während der „Kurzarbeit Null“ kein Anspruch auf bezahlten Urlaub zustehe. Das ArbG Passau beabsichtigte, den Pro-rata-temporis-Grundsatz anzuwenden, die Zeit der „Kurzarbeit Null“ einer Arbeitszeitverkürzung aufgrund eines Wechsels von einem Voll- zu einem Teilzeitarbeitsverhältnis gleichzustellen und damit den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu verringern. Es zweifelte jedoch an der Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit dem Unionsrecht und legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor: Die Frage, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 7 Abs. 1 der RL 2003/88/EG zur Arbeitszeitgestaltung der Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes aufgrund nationaler Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten für den Fall der Kurzarbeit entgegenstünden. Sollte der EuGH diese Frage bejahen, wollte das ArbG weiter wissen, ob die genannten Vorschriften auch einer Kürzung des Jahresurlaubs auf null infolge von „Kurzarbeit Null“ entgegenstünden.

Nach Auffassung des EuGH stehen die genannten Vorschriften der entsprechenden Kürzung des bezahlten Jahresurlaubs nicht entgegen. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union, hebt der Gerichtshof unter Verweis auf seine Urteile in der Sache Schulz- Hoff (v. 20.1.2009 – C-350/06) und Neidel (v. 3.5.2012 – C-337/10) hervor. Dieser Grundsatz ist in Art. 31 Abs. 1 der Charta ausdrücklich verankert. Für krankgeschriebene Arbeitnehmer hängt der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht davon ab, dass sie während des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Nach den Urteilen Schulz-Hoff und Dominguez (C-282/10) steht Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegen, nach denen am Ende des Arbeitsverhältnisses keine Urlaubsabgeltung erfolgt, wenn der Mitarbeiter während des Bezugszeitraums den Jahresurlaub krankheitsbedingt nicht nehmen konnte.

Der EuGH stellt jedoch klar, dass diese Rechtsprechung nicht auf den Fall eines Kurzarbeiters übertragen werden kann. Die Situation eines erkrankten Beschäftigten und die eines Kurzarbeiters sind danach nicht vergleichbar. Dabei hebt der EuGH drei Aspekte hervor:

Die Kurzarbeit beruhte vorliegend auf einem Sozialplan und war daher für den Arbeitnehmer vorhersehbar. Die Zeit während der Kurzarbeit war überdies frei gestaltbar. Zuletzt würde der Arbeitgeber u. U. von dem Abschluss eines Sozialplans über Kurzarbeit zur Vermeidung von Kündigungen absehen, wäre er verpflichtet, den Jahresurlaub auszugleichen. Faktisch ist die Situation eines Kurzarbeiters danach vielmehr mit der eines Teilzeitbeschäftigten zu vergleichen. Zwar hat der Kurzarbeiter formell einen Vollzeitarbeitsvertrag, die gegenseitigen Leistungspflichten sind jedoch nach Maßgabe der Arbeitszeitverkürzung suspendiert. Der Kurzarbeiter ist nach Ansicht des EuGH daher als „vorübergehend teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer“ anzusehen. Die anteilige Kürzung des bezahlten Jahresurlaubs von Teilzeitbeschäftigten hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache „Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols“ (v. 22.4.2010 – C-486/08, AuA 3/11, S. 178) anerkannt. Einschränkend weist der EuGH allerdings darauf hin, dass dieser Grundsatz nicht nachträglich auf einen Urlaubsanspruch angewandt werden kann, der in einer Zeit der Vollzeitbeschäftigung erworben wurde. Eine nationale Regelung oder Gepflogenheit darf daher nicht den teilweisen Verlust eines bereits in einem früheren Bezugszeitraum erworbenen Urlaubsanspruchs vorsehen.

Da der EuGH die erste Frage des Arbeitsgerichts verneint hat, hat er die zweite Frage nicht beantwortet.

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Konsequenzen

Nach den Entscheidungen des EuGH über den Urlaubsanspruch langzeiterkrankter Mitarbeiter fügt das vorliegende Urteil dem Urlaubsrecht ein weiteres Puzzleteil bei. Arbeitnehmer in der Kurzarbeit sind nach Auffassung der Luxemburger Richter im Hinblick auf den Jahresurlaub den Teilzeitbeschäftigten gleichzustellen. Für deren Urlaubsansprüche hat der EuGH die Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes bereits anerkannt. Die anteilige Kürzung des Jahresurlaubs im Verhältnis zur Arbeitszeit ist daher für Beschäftigte in der Kurzarbeit eine konsequente Fortsetzung dieser Rechtsprechung. Auch im Hinblick auf den Zweck der Kurzarbeit, den Arbeitgeber in der Krise wirtschaftlich zu entlasten und gleichzeitig zum Schutz der Arbeitnehmer Kündigungen zu vermeiden, überzeugt die Entscheidung. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG auf den vom EuGH aufgestellten Grundsatz reagieren wird. Mit Urteil vom 7.8.2012 (9 AZR 353/10) hatte das BAG entschieden, den Urlaubsanspruch im ruhenden Arbeitsverhältnis nicht zu kürzen.

Praxistipp

Ist die Situation eines Mitarbeiters mit einer Teilzeitkonstellation vergleichbar, sind Urlaubsansprüche entsprechend zu verringern. Ein Sozialplan oder eine Betriebsvereinbarung sind sicher ein probates Mittel, um die Vorhersehbarkeit für den einzelnen Arbeitnehmer sicherzustellen. Es empfiehlt sich außerdem, in die vertragliche Grundlage über die Einführung der Kurzarbeit eine ausdrückliche Regelung über die entsprechende Kürzung des Urlaubsanspruchs aufzunehmen.

RAin Dr. Johanna Gerstung, Allen & Overy LLP, Frankfurt am Main

Redaktion (allg.)

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