Der letzte Akt im Fall „Emmely“

1. Auch wenn ein Sachverhalt, z. B. ein Diebstahl zulasten des Arbeitgebers, an sich geeignet ist, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen, hängt deren Wirksamkeit immer von einer umfassenden, auf den Einzelfall bezogenen Interessenabwägung ab.

2. Die Wirksamkeit einer Kündigung ist nach den objektiven Tatsachen im Zeitpunkt ihres Zugangs zu beurteilen. Umstände, die erst danach entstanden sind, dürfen nicht in die Interessenabwägung einfließen. Sie können allenfalls als Grundlage für eine weitere Kündigung oder einen Auflösungsantrag nach §§ 9, 10 KSchG dienen.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09

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Bild: Erwin-Wodicka / stock.adobe.com
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Problempunkt

Mit diesem Urteil entschied das BAG abschließend über den in der Öffentlichkeit viel beachteten Fall "Emmely". Schon die Instanzentscheidung des LAG und die Zulassung der Revision durch das BAG wurden vielfach diskutiert. Die Klägerin, Frau Barbara Emme, kurz Emmely, war als Kassiererin in einem Supermarkt beschäftigt. Der Filialleiter übergab ihr zwei Lehrgutbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro, die ein Kunde verloren hatte. Die Klägerin löste diese für sich selbst ein.

Das LAG hielt die deshalb von der Beklagten ausgesprochene Kündigung für gerechtfertigt (Urt. v. 24.2.2009 - 7 Sa 2017/08, AuA 12/09, S. 727 f.). Das BAG ließ die Revision gegen das Urteil nur zu, weil das LAG das prozessuale Verhalten, insbesondere unwahre Angaben der Klägerin, im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt hatte (Urt. v. 28.7.2009 - 3 AZN 224/09, AuA 12/09, S. 728 f.). Im Kern ging es also nicht mehr um die Frage, ob der Diebstahl geringwertiger Sachen eine Kündigung grundsätzlich rechtfertigen kann. Relevant war nur noch, ob die vom LAG im Einzelfall Barbara Emme vorgenommene Interessenabwägung fehlerhaft war oder nicht. Trotzdem nahm das BAG dies zum Anlass für grundlegende Ausführungen, die als Neuausrichtung der Rechtsprechung zur verhaltensbedingten Kündigung gewertet werden können.

Entscheidung

Das BAG bewegte sich zunächst ganz auf der bisherigen Linie der Rechtsprechung. Es machte deutlich, dass nach dem vom LAG festgestellten Sachverhalt „an sich“ ein wichtiger Grund zur Kündigung vorliegt. Zum Nachteil des Arbeitgebers begangene Eigentums- oder Vermögensdelikte sind – unabhängig vom Wert des Tatobjekts und der Höhe des eingetretenen Schadens – grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Indem die Klägerin die Pfandbons einlöste, die ihr der Filialleiter anvertraut hatte, beging sie eine Pflichtverletzung, die die Schwelle zum wichtigen Grund überschritt. Das BAG hielt die fristlose Kündigung dennoch für unwirksam, da die im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung zu Gunsten der Klägerin ausfiel. Es berücksichtigte auf der einen Seite die besondere Vertrauensstellung einer Kassiererin. Diese wurde im konkreten Fall noch dadurch verstärkt, dass der Filialleiter der Klägerin die Pfandbons anvertraut hatte, um sie zu verwahren und ggf. an einen Kunden zurückzugeben. Die Erfurter Richter maßen aber der Tatsache, dass es die erste Pflichtverletzung der Klägerin war und sie beanstandungsfrei gut drei Jahrzehnte dem Betrieb angehört hatte, größere Bedeutung bei. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf einem steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers, ist jedoch grundsätzlich davon auszugehen, dass schon die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses sein künftiges Verhalten positiv beeinflusst. Der Grundsatz vom Vorrang der Abmahnung vor der fristlosen Kündigung gilt uneingeschränkt, selbst bei Störungen des Vertrauensbereichs durch Straftaten gegen das Vermögen oder Eigentum des Arbeitgebers.

 

Auch das uneinsichtige Verhalten der Klägerin nach der Tat verstärkte die Pflichtverletzung nicht. Obwohl sie ihren Prozessvortrag mehrfach wechselte und eine vorsätzliche Pflichtwidrigkeit beharrlich leugnete, ließ dies nach Ansicht des BAG keine Rückschlüsse darauf zu, wie zuverlässig sie künftig als Kassiererin ist.

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Konsequenzen

Die Entscheidung des BAG war auch für Fachleute überraschend. Das Berufungsurteil war so sorgfältig begründet, dass man allenfalls mit einer Zurückweisung an das LAG zur erneuten Entscheidung hätte rechnen können. Bisher galt der Grundsatz, dass das BAG keine eigene Interessenabwägung im Einzelfall vornimmt, weil der Tatsacheninstanz ein Beurteilungsspielraum zusteht. In diesen hat das BAG nun eingegriffen, indem es eine eigene Interessenabwägung traf und den Einzelfall abschließend entschied.

 

In der Begründung der Entscheidung weicht das BAG formal nicht von den bisher geltenden Rechtsgrundsätzen ab. Allerdings gibt es eine deutliche Akzentverschiebung. Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung hält es jetzt eine vorherige Abmahnung auch bei Straftaten, die sich gegen das Vermögen des Arbeitgebers richten, i. d. R. für notwendig. Eine einmalige Straftat erschüttert die Vertrauensstellung nicht so weit, dass eine Kündigung ohne Abmahnung gerechtfertigt wäre. Selbst wenn der Betreffende die Tat hartnäckig leugnet und unwahre Dinge im Prozess behauptet, soll dies nicht zu einem zusätzlichen Vertrauensverlust führen.

 

Die Leitlinie für die Zukunft dürfte also sein, dass ein Diebstahl oder Betrug zulasten des Arbeitgebers eine außerordentliche fristlose Kündigung jedenfalls dann nicht rechtfertigt, wenn es sich um einen einmaligen Vorfall nach einer längeren beanstandungsfreien Tätigkeit handelt und sich die Tat auf eine Sache von geringem Wert bezieht. Auch wenn das BAG diese Frage nicht zu entscheiden hatte, werden die gleichen Grundsätze für eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung nach § 1 KSchG gelten.

Praxistipp

Arbeitgeber sollten zukünftig bei kleineren Vermögensdelikten nicht mehr sofort außerordentlich fristlos kündigen. Vielmehr ist jeder Einzelfall sehr sorgfältig zu prüfen. War der betroffene Mitarbeiter über längere Zeit beanstandungsfrei tätig, wird i. d. R. eine vorherige Abmahnung notwendig sein. Wegen der wirtschaftlichen Risiken, die ein Kündigungsschutzprozess für den Arbeitgeber mit sich bringt, ist davon abzuraten, solche Fälle durch die Instanzen zu streiten. Macht der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess falsche Angaben, kann der Arbeitgeber diese als Anlass nehmen, um erneut zu kündigen oder einen Auflösungsantrag nach §§ 9, 10 KSchG zu stellen. Auf die Frage, ob die Kündigung wirksam ist, hat das Prozessverhalten dagegen keinen Einfluss.

RA und FA für Arbeitsrecht Dr. Reinhard Möller, Rechtsanwälte Bartsch und Partner, Karlsruhe

Redaktion (allg.)

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