EuGH billigt zeitliche Begrenzung der Urlaubsabgeltung

Eine nationale Regelung darf die Ansammlung von Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer wegen andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht nehmen konnte, zeitlich begrenzen. Eine derartige Frist muss aber die Dauer des Bezugszeitraums, an den sie anknüpft, deutlich überschreiten.

(Leitsatz der Bearbeiter)

EuGH, Urteil vom 22. November 2011 – C-214/10

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Bild: AlcelVision/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger war seit Januar 2002 arbeitsunfähig krank. Im August 2008 endete sein Arbeitsverhältnis. Der einschlägige Tarifvertrag sah vor, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer wegen Krankheit nicht nehmen konnte, nach Ablauf einer Übertragungsfrist von 15 Monaten nach dem Bezugszeitraum (Kalenderjahr) erlischt. Der Kläger verlangte Abgeltung des Urlaubs für die Jahre 2006, 2007 und 2008. Er machte geltend, dass er jeweils während des gesamten Urlaubsjahres krankgeschrieben war und nicht die Möglichkeit hatte, seinen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen.

Das LAG Hamm stellte fest, dass der Urlaubsanspruch für das Jahr 2006 nach dem Tarifvertrag wegen Ablauf des Übertragungszeitraums erloschen ist. Es bezweifelte aber, ob eine Regelung im Tarifvertrag, die Urlaubsansprüche zeitlich begrenzt, mit der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG vom 4.11.2003 vereinbar ist. Es legte diese Frage daher dem EuGH vor.

Entscheidung

Der EuGH antwortete, dass eine nationale Regelung die Ansammlung von Jahresurlaub, den der Mitarbeiter wegen andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht nehmen konnte, zeitlich begrenzen darf. Der Sinn und Zweck des Jahresurlaubs verliert seinen Sinn, wenn der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze überschreitet. Dann fehlt dem Jahresurlaub die positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungsraum. Erhalten bleibt ihm lediglich die Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit. Ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Jahre in Folge arbeitsunfähig ist, kann nicht berechtigt sein, in diesem Zeitraum erworbene Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub unbegrenzt anzusammeln. Der Übertragungszeitraum schützt den Arbeitgeber vor der Gefahr, dass sich zu lange Abwesenheitszeiträume ansammeln und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können.

Der EuGH betonte jedoch, dass der Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten muss. Einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten sah das Gericht hier als ausreichend an. Er stellt sicher, dass die positive Wirkung des Urlaubs als Erholungszeit gewährleistet bleibt.

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Konsequenzen

Im Schultz-Hoff-Urteil (v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, AuA 5/09, S. 276 ff.) hatte der EuGH entschieden, dass der ersatzlose Verfall von Urlaubsansprüchen europarechtswidrig ist, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, den Urlaub zu nehmen. Mit der vorliegenden Entscheidung hat das Gericht diesen Grundsatz begrüßenswerterweise eingeschränkt. Danach ist eine tarifvertragliche Regelung, nach der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub bei Langzeiterkrankungen 15 Monate nach Ablauf des Bezugszeitraums erlö schen, europarechtskonform. Das Urteil ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Der EuGH hat keineswegs eine verbindliche 15-Monats-Grenze eingeführt. Er hat lediglich entschieden, dass die tarifliche Regelung im vorliegenden Fall zulässig ist. Damit hat er nicht festgelegt, wie lang der Übertragungszeitraum genau sein muss, um der Richtlinie 2003/88/EG zu entsprechen.

Es wird also Sache der Rechtspraxis sein, auszuloten, ob bspw. ein Übertragungszeitraum von zwölf Monaten zulässig wäre. Weiterhin bleibt offen, ob es auch europarechtskonform wäre, den Übertragungszeitraum durch eine einzelvertragliche Regelung zu begrenzen. Im Urteil heißt es, dass das Ansammeln von Urlaub durch eine nationale Regelung oder eine „Gepflogenheit“, wie einen Tarifvertrag, zeitlich begrenzt werden kann. Was alles unter den Begriff „Gepflogenheit“ zu fassen ist, ist fraglich. Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtspraxis ihn auslegen wird.

 

Praxistipp

Die Tarifvertragsparteien können einen maximalen Übertragungszeitraum für Urlaub, den ein Mitarbeiter infolge von Arbeitsunfähigkeit nicht nehmen konnte, festlegen. Er muss jedoch den Bezugszeitraum deutlich übersteigen. Ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten ist nach der hier vorliegenden Entscheidung europarechtskonform. Dies unterscheidet den Fall vom Sachverhalt des Schultz-Hoff-Urteils, bei dem der Übertragungszeitraum nur sechs Monate betrug. Eine verbindliche Grenze hat der EuGH allerdings nicht festgelegt. Unklar ist, ob ein Übertragungszeitraum von zwölf Monaten zulässig wäre. Das Gleiche gilt für die Frage, ob der Arbeitgeber die Ansammlung von Urlaubsansprüchen auch im Rahmen eines Arbeitsvertrags begrenzen darf. Da sich eine solche Verfallklausel in kaum einem Tarifvertrag findet, bleibt abzuwarten, ob der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Regelung ins Bundesurlaubsgesetz aufnimmt. Bis dahin gelten die Erkenntnisse aus dem Schultz-Hoff-Urteil weiter (s. zum Thema auch Fuhlrott/Hoppe, AuA 2/12, S. 86 ff.).

RA Paul Schreiner (Partner), RA Simona Markert, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Essen

Redaktion (allg.)

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