Gewerkschaftswerbung via E-Mail

Eine tarifzuständige Gewerkschaft ist aufgrund ihrer verfassungsrechtlich geschützten Betätigungsfreiheit grundsätzlich berechtigt, E-Mails zu Werbezwecken auch ohne Einwilligung des Arbeitgebers und Aufforderung durch die Arbeitnehmer an die betrieblichen E-Mail-Adressen der Beschäftigten zu versenden.

BAG, Urteil vom 20. Januar 2009 – 1 AZR 515/08

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Bild: Stefan-Yang / stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Klägerin ist ein Dienstleistungsunternehmen mit insgesamt etwa 3.300 Mitarbeitern. Sie beschloss Ende 2006, mehrere Standorte zu schließen. Die Gewerkschaft ver.di versandte daraufhin eine E-Mail an die betrieblichen E-Mail-Adressen sämtlicher Arbeitnehmer, in der sie den gewerkschaftlichen Standpunkt zu den angekündigten Schließungen darstellte und verschiedene Forderungen gegenüber dem Unternehmen erhob. Zugleich kündigte sie an, sie werde die Beschäftigten "künftig intensiv und direkt auf dem Weg des Mailings informieren".

Die Mail-Adressen waren nach dem Muster Vorname.Nachname@Unternehmen.de aufgebaut. Auf welchem Weg die Gewerkschaft an sie gelangt war, blieb ungeklärt. Den Mitarbeitern der Klägerin ist es durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung gestattet, während der Arbeitszeit einen privaten E-Mail-Zugang aufzurufen. Dagegen ist es ihnen ausdrücklich untersagt, die betriebliche E-Mail-Adresse zu privaten Zwecken zu nutzen.

Mit seiner Klage wendete sich das Unternehmen dagegen, dass ver.di weiter gewerkschaftliche Werbung an Mitarbeiter über ihre dienstliche E-Mail-Adresse versendet. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Berufung der Gewerkschaft zurück.

Entscheidung

Die Revision vor dem BAG hatte Erfolg. Eine tarifzuständige Gewerkschaft ist berechtigt, E-Mails auch ohne Einwilligung des Arbeitgebers und ohne vorherige Aufforderung seitens der Arbeitnehmer an die betrieblichen Mail-Adressen der Beschäftigten zu versenden. Die Entscheidung, Mitarbeiter auf diesem Weg anzusprechen, ist Teil ihrer durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) geschützten Betätigungsfreiheit. Demgegenüber müssen das Eigentumsrecht des Arbeitgebers aus Art. 14 Abs. 1 GG und sein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus Art. 2 Abs. 1 GG zurückzutreten. Dies gilt jedenfalls, solange der E-Mail-Versand nicht zu nennenswerten Betriebsablaufstörungen oder spürbaren wirtschaftlichen Belastungen führt. Auf Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer kann sich der Arbeitgeber nicht berufen.

Die Befugnis der Gewerkschaften, durch E-Mails an die betriebliche Adresse Mitglieder zu werben und die Beschäftigten zu unterrichten, folgt aus der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit. Deren Ausgestaltung obliegt den Gerichten im Wege der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung. Dabei beschränkt sich der Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG nicht auf den Kernbereich der koalitionsmäßigen Betätigung, der unerlässlich ist, um den Koalitionszweck zu erreichen. Vielmehr erstreckt er sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Er umfasst daher auch die Art, in der eine Gewerkschaft Werbung betreiben und Informationen erteilen will.

In diesem Zusammenhang sieht das BAG die Möglichkeit, dass Gewerkschaften sowohl mit Mitgliedern als auch mit Nichtmitgliedern via E-Mail in Kontakt treten können, als „geschütztes Interesse von erheblichem Gewicht“ an. Der betrieblichen E-Mail-Adresse kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil Arbeitnehmer am Arbeitsplatz eher bereit sind, sich mit gewerkschaftlichen Belangen zu befassen. Außerdem ist zu befürchten, dass Gewerkschaften, die sich nicht des betrieblichen E-Mail-Systems bedienen können, bei den Mitarbeitern zunehmend als „veraltet“ gelten und daher Akzeptanzverluste befürchten müssen.

Diesen Interessen der Gewerkschaft stehen nach Auffassung der Erfurter Richter nur geringfügige Belastungen des Arbeitgebers gegenüber. Der Umfang der Arbeitszeit, die die Beschäftigten aufwenden, um die Werbung zu lesen, lässt sich kaum verlässlich messen. Er ist jedenfalls nicht höher als bei der Lektüre von Werbe- und Informationsmaterial, das die Gewerkschaften in Papierform übereichen. Beeinträchtigungen durch die Nutzung von Speicherplatz und Sachmittel sind nicht ersichtlich.

Überdies steht eine tarifzuständige Gewerkschaft zum Arbeitgeber als Inhaber des Betriebs und der Betriebsmittel in einer besonderen Beziehung, wenn sie koalitionsmäßige Aufgaben wahrnimmt. Daher ist ihm eine Inanspruchnahme seines Eigentums und seiner Betriebsmittel eher zumutbar. Ein Vorrang seiner Interessen gegenüber denen der Gewerkschaft ist erst denkbar, wenn Häufigkeit, Umfang oder Inhalt der E-Mails den Betriebsablauf bzw. den Betriebsfrieden stören und den Betätigungsschutz entfallen lassen. Dasselbe gilt, falls kein inhaltlicher Bezug zum verfassungsrechtlich geschützten Koalitionszweck besteht.

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Konsequenzen

Das BAG hat mit dieser Entscheidung seine einseitig an Gewerkschaftsinteressen orientierte Rechtsprechung fortgesetzt. Dabei erscheinen die Begründungen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht wenig überzeugend und z. T. geradezu abenteuerlich. Der angesprochene Akzeptanzverlust einiger Gewerkschaften mag viel eher durch ihre allzu einseitige politische Ausrichtung und die im hohen sechsstelligen Bereich liegenden Bezüge der obersten Gewerkschaftsfunktionäre begründet sein. Auch dass sie jegliche datenschutzrechtliche Verfehlung auf Arbeitgeberseite zum Skandal stilisieren, zugleich aber nicht davor zurückschrecken, Arbeitnehmerdaten auf zumindest fragwürdigem Wege zu beschaffen, um ihre Interessen durchzusetzen, stärkt sicherlich nicht das Vertrauen in sie.

Die Behauptung, den Gewerkschaften drohten Akzeptanzverluste, wenn sie ihre Werbung nicht über betriebliche E-Mail-Adressen versenden können, lässt sich dagegen nicht begründen. Dies wäre höchstens der Fall, wenn die Nutzung betrieblicher E-Mail-Adressen der einzige Weg wäre, moderne Kommunikationswege zu verwenden. Die Gewerkschaften setzen jedoch bereits in erheblichem Maße elektronische Medien ein. Es steht ihnen außerdem jederzeit frei, Mitglieder und Interessenten über ihre private E-Mail-Adresse zu informieren.

Wenig überzeugend ist auch, dass der Vortrag des Arbeitgebers zum Umfang der aufgewandten Arbeitszeit keinen erheblichen Eingriff erkennen lasse. Dieser hatte dargelegt, dass insgesamt 190 Arbeitsstunden verloren gehen, wenn nur die Hälfte der Mitarbeiter jeweils sieben Minuten mit der Mail beschäftigt ist. Das BAG geht in seinen Ausführungen selbst davon aus, dass der einzelne Beschäftigte zumindest „wenige Minuten“ von der Arbeit abgehalten wird. Diesen Zeitaufwand ließ es jedoch nahezu unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund, dass ver.di ausdrücklich weitere, intensive Mailing-Aktionen angekündigt hatte, erstaunt dies zumindest. Legt man die Berechnung des Arbeitgebers zugrunde, ergibt sich bei nur einer Mail pro Monat und einer Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche rein rechnerisch ein Bedarf von zusätzlich ca. 1,5 Vollzeitarbeitskräften, um den Zeitverlust durch die Gewerkschaftswerbung zu kompensieren – zumindest wenn keine Vertrauensarbeitszeit vereinbart ist.

Auch dogmatisch überzeugt die Entscheidung nicht. Zweifelhaft erscheint bereits, im Wege einer „gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung“ aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleiten, dass den Gewerkschaften das Recht zusteht, unmittelbar im Betrieb – und damit im Rechtsbereich des Arbeitgebers – Werbeaktionen durchzuführen. Zwar muss man den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigungen, die unerlässlich sind, um den Koalitionszweck zu erreichen, beschränken. Dies bedeutet aber nicht, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, seinen sozialen Gegenspieler tatsächlich und finanziell zu unterstützen. Es ist nicht ersichtlich, warum den Gewerkschaften das Recht zustehen soll, die „Art und Weise der Mitgliederwerbung und Information“ so zu wählen, dass sie „auf die Inanspruchnahme von Eigentum und Betriebsmitteln des Arbeitgebers angewiesen“ sind, wenn sie die Möglichkeit haben, Werbemaßnahmen auch ohne Eingriffe in die Rechte des Arbeitgebers durchzuführen.

Das BAG erkennt aber zumindest an, dass die Mitgliederwerbung von Gewerkschaften über betriebliche E-Mail-Adressen nicht grenzenlos zulässig ist. Allerdings bleibt nahezu unbestimmt, in welchen Fällen die Häufigkeit, der Umfang oder der Inhalt der Mails die Aktionen unzulässig machen kann.

Praxistipp

Gewerkschaftlicher Werbung via E-Mail wird man künftig nur noch sicher entgegentreten können, wenn ein direkter Bezug zum Koalitionszweck fehlt. Dies ist insbesondere bei Wahlwerbung der Gewerkschaften für bestimmte Parteien der Fall. Die übrigen Grenzen, die das BAG zieht, sind dagegen zu vage, um verlässlich festzulegen, in welchen Fällen Mailing-Aktionen rechtswidrig sind. Ein wirksamer Schutz vor gewerkschaftlicher Werbung via E-Mail besteht damit nur, solange die E-Mail Adressen der Mitarbeiter den Gewerkschaften unbekannt sind. Arbeitgeber sollten daher künftig ein besonderes Augenmerk darauf legen, dass niemand die Adressen unbefugt weitergibt. Vor Gericht bleibt nur noch die Möglichkeit, eine konkrete Störung der Betriebsabläufe oder spürbare wirtschaftlichen Belastungen durch die Werbeaktionen der Gewerkschaften darzulegen.

Prof. Dr. Arnd Diringer, Vaihingen an der Enz

Redaktion (allg.)

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