Kein Schadensersatz bei Änderungen im Vertriebssystem

1. Ohne besondere vertragliche Vereinbarung besteht grundsätzlich keine Pflicht des Arbeitgebers, seine Organisationsgewalt so auszuüben, dass die Höhe des erfolgsabhängigen variablen Anteils einzelner Mitarbeiter sich nicht verändert.

2. Die Vereinbarung eines auf den Geschäftsabschluss bezogenen erfolgsabhängigen Entgelts ist auch im Arbeitsverhältnis möglich. Bei einer bestehenden Tarifbindung darf aber das Tarifentgelt nicht unterschritten werden.

3. Auch die alleinige Zusage einer Provision ohne Fixum ist grundsätzlich möglich. Sie ist jedoch wegen Sittenwidrigkeit unwirksam, wenn ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung i. S. v. § 138 Abs. 2 BGB vorliegt. Dies ist der Fall, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel des Tariflohns erreicht, der in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlt wird.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 98/11

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Bild: schemev / stock.adobe.com
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Problempunkt

Bezahlt der Arbeitgeber Arbeitnehmer nach dem Umsatz, den sie generieren oder verantworten, kann es vorkommen, dass sich durch die Veränderung äußerer Umstände die Vergütung reduziert. Es stellt sich dann die Frage, ob dies lediglich Ausdruck der spezifischen Erfolgsbezogenheit der Vergütung ist oder unter bestimmten Voraussetzungen zu Schadensersatzansprüchen gegen den Arbeitgeber führen kann.

Der Kläger ist seit über 30 Jahren bei der Beklagten beschäftigt, seit 2000 als Vertriebsleiter. Seine Vergütung umfasste zuletzt ein Grundgehalt i. H. v. 1.820 Euro brutto. Außerdem erhielt er Provisionen für die von ihm und den ihm unterstellten Arbeitnehmern vermittelten Abschlüsse. Aufgabe des Klägers und seiner Mitarbeiter war es, in einem oder mehreren Beratungsterminen die Versicherungsprodukte der Beklagten zu vertreiben. Die Termine vereinbarten sog. Beauftragte.

In den Jahren 2002 bis 2005 bewegte sich das Gehalt des Klägers zwischen 70.000 und 80.000 Euro. Seit dem Jahr 2006 fiel es von 41.000 Euro bis zum Jahr 2008 auf 31.000 Euro. Im Jahr 2005 hatte sich die Beklagte entschlossen, die Vertriebsstrukturen zu ändern, um die Wettbewerbsfähigkeit am Markt zu erhalten. Sie führte die zwei Vertriebsorganisationen zusammen. Die Anzahl der Standorte wurde von 29 auf 10 reduziert. In der Regionaldirektion M, zu der der Kläger gehörte, verringerte sich die Zahl der Beauftragten wie auch der von ihnen angeworbenen Termine dramatisch.

Der Kläger war der Auffassung, die Beklagte habe ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verletzt, da sie nicht für eine nach Anzahl und Qualität ausreichende Versorgung mit Terminen durch die Beauftragten sorge. Das provisionsabhängige Einkommen habe sich um mehr als 15 % reduziert. Mangels Änderungskündigung liege ein unzulässiger Eingriff in den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses vor. Jedenfalls habe die Beklagte ihre Fürsorgepflicht verletzt, indem sie Beauftragte in den Ruhestand geschickt oder abgefunden habe, ohne zu bedenken, dass es dann an Personal fehle, um Beratungstermine zu vereinbaren.

Außerdem sei die betriebliche Organisation mangelhaft. Maßnahmen wie eine telefonische Nachkontrolle oder qualitativ schlechte zugewiesene Termine hätten die Arbeit der Berater und ihre Erfolgsaussichten erschwert und geschmälert.

Der Kläger verlangte Schadensersatz wegen Verdienstminderung i. H. v. ca. 130.000 Euro. Seine Klage war in den ersten beiden Instanzen erfolglos.

Entscheidung

Das BAG schloss sich den Vorinstanzen an. Nach seiner Auffassung war die Entgeltvereinbarung nicht nach § 138 BGB nichtig, da der Kläger auch in den schlechteren Jahren ein jährliches Einkommen von 31.000 Euro und mehr erzielte. Die verabredete Grundvergütung wurde um nahezu 50 % überschritten. Eine arbeitsvertragliche Verpflichtung der Beklagten, im Verhältnis zu den Beratern eine bestimmte Anzahl an Beauftragten zu beschäftigen oder dem Kläger eine bestimmte Zahl von Vermittlern zu unterstellen, besteht nicht. Die Beklagte hatte sich ausdrücklich vertraglich das Recht vorbehalten, die Anzahl der dem Kläger unterstellten Vermittler jederzeit zu verändern.

Die Beklagte hat auch nicht die ihr obliegende Pflicht, Rücksicht auf die Rechtsgüter und Interessen des Klägers zu nehmen, verletzt. Zwar wird bei Handelsvertretern angenommen, dass der Unternehmer verpflichtet ist, das Vertriebssystem so auszugestalten, dass es dem Handelsvertreter eine hinreichende Einnahmemöglichkeit bietet. Eine solche Organisationspflicht findet aber in der Dispositionsfreiheit des Unternehmens ihre Grenzen. Es muss sich nicht dem Handelsvertreter unterordnen, sondern darf frei entscheiden, was in seinem geschäftlichen Interesse liegt. Es ist grundsätzlich sein alleiniges und frei auszuübendes Recht, den Betrieb so einzurichten, umzugestalten und in der Öffentlichkeit darzustellen, wie es ihm richtig und vernünftig erscheint.

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Konsequenzen

Die Entscheidung ist in vielerlei Hinsicht erfreulich. Sie spricht zunächst einmal eine Selbstverständlichkeit klar und deutlich aus: Eine erfolgsabhängige Vergütung reduziert sich bei nachlassendem Erfolg. Dabei kommt es nicht darauf an, worauf die Erfolglosigkeit im Einzelnen beruht. Es besteht auch grundsätzlich keine Pflicht des Arbeitgebers, seine Organisationsgewalt so auszuüben, dass sich die Höhe des erfolgsabhängigen variablen Entgelts einzelner Mitarbeiter nicht verändert.

 

Praxistipp

Bei der Übertragung der Konsequenzen dieser Entscheidung auf andere Sachverhalte ist allerdings Vorsicht geboten. Das BAG hebt als Voraussetzung für seine generelle Aussage das Fehlen einer besonderen vertraglichen Vereinbarung hervor. In einer Vielzahl von Vertriebssystemen werden dem Handlungsgehilfen aber bestimmte Bezirke, Kunden und/oder Produkte zugewiesen. In solchen Fällen ist eine Änderung der entsprechenden Parameter nur nach Maßgabe der jeweiligen konkreten vertraglichen Regelungen möglich.

RA Dr. Hans-Peter Löw, Partner, Allen & Overy LLP, Frankfurt am Main

Redaktion (allg.)

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