Keine Heilung von Fehlern bei Massenentlassungsanzeige

Das Arbeitsgericht ist an einen bestandskräftigen Bescheid der Agentur für Arbeit (AfA) nicht gebunden. Es kann trotzdem feststellen, dass die Massenentlassungsanzeige – und damit die Kündigung – unwirksam ist. Ein bestandskräftiger Bescheid der AfA heilt eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht.

(Leitsatz der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 28. Juni 2012 – 6 AZR 780/10

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Problempunkt

Beabsichtigt der Arbeitgeber, mehreren Arbeitnehmern zu kündigen, ist stets zu prüfen, ob es nach § 17 Abs. 1 KSchG einer Anzeige gegenüber der AfA bedarf. Ihr ist gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG eine Stellungnahme des Betriebsrats beizufügen.

Möglich ist auch, einen Interessenausgleich mit Namensliste nach § 1 Abs. 5 KSchG bzw. nach § 125 Abs. 1 InsO abzuschließen, der die Stellungnahme ersetzt.

Welche Auswirkungen eine nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige auf die Kündigungen hat, wurde bislang uneinheitlich bewertet. Unklar war insbesondere, ob ein Verstoß gegen § 17 Abs. 2 und 3 KSchG die Kündigung unwirksam macht und wenn ja, ob sich dies nachträglich heilen lässt, z. B. durch einen bestandskräftigen Bescheid der AfA im Rahmen des § 18 Abs. 2 KSchG.

Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer Kündigung, die der beklagte Insolvenzverwalter infolge einer insolvenzbedingten Betriebsänderung ausgesprochen hatte. Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens schlossen der Arbeitgeber und der Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, die auch den Kläger nannte. Der Arbeitgeber erstattete Massenentlassungsanzeige bei der AfA. Er fügte weder den Interessenausgleich noch eine Stellungnahme des Betriebsrats bei. Der Betriebsrat erklärte schriftlich gegenüber der AfA, er sei über die Massenentlassungsanzeige informiert. Die AfA bestätigte den Eingang der Anzeige und verkürzte mit einem späteren Bescheid die Sperrfrist nach § 18 KSchG.

Der Kläger begehrte die Feststellung, dass die Kündigung sein Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat, da die Massenentlassungsanzeige unwirksam war. Arbeitsgericht und LAG gaben der Klage statt.

Entscheidung

Das BAG hielt die Kündigung ebenfalls für unwirksam. Der Massenentlassungsanzeige fehlte die Stellungnahme des Betriebrats. Diese stellt gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG jedoch eine Wirksamkeitsvoraussetzung dar.

Die geplante Maßnahme war anzeigepflichtig. Auch Arbeitnehmer, die voraussichtlich in eine Transfergesellschaft wechseln, aber zum Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige noch nicht vom Angebot eines dreiseitigen Vertrags Gebrauch gemacht haben, sind bei der Berechnung des Schwellenwertes nach § 17 Abs. 1 KSchG einzubeziehen. Mitarbeiter, die durch Eigenkündigung oder Abschluss eines Aufhebungsvertrags einer betriebsbedingten Kündigung zuvorkommen, zählen ebenfalls mit. Allerdings können sich nur Beschäftigte, die die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft nicht erfasst, auf eine zu niedrige Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer berufen.

Die fehlende Stellungnahme des Betriebsrats wurde nicht durch dessen Schreiben an die AfA geheilt. Die Stellungnahme muss sich auf die angezeigten Kündigungen beziehen. Erforderlich ist eine abschließende Meinungsäußerung. Dabei reicht aber auch eine eindeutige Äußerung, keine Stellung nehmen zu wollen.

Eine Heilung durch einen bestandskräftigen Bescheid der AfA kam ebenfalls nicht in Betracht. Dieser hindert die Arbeitsgerichte nicht, die Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige festzustellen. Ein solcher Bescheid nach §§ 18, 20 KSchG entfaltet weder gegenüber dem Kläger noch der Arbeitsgerichtsbarkeit materielle Bestandskraft. Die Bindungswirkung umfasst nur die Dauer der Sperrfrist und den Zeitpunkt ihres Ablaufs oder die Genehmigung, Entlassungen vor Ablauf der Sperrfrist vorzunehmen. Die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige selbst stellt die AfA in ihrem Bescheid nicht fest. Sie ist daher von der Bindungswirkung des Bescheids nicht umfasst.

Würde man dem Kläger, der nicht am Verfahren der AfA beteiligt ist, die Möglichkeit abschneiden, sich im Kündigungsschutzprozess auf Formfehler der Massenentlassungsanzeige zu berufen, wäre das von Art. 6 MERL (RL 98/59/ EG) geforderte Schutzniveau unterschritten. Das BAG geht daher davon aus, dass § 17 KSchG – entgegen früherer Auffassung – nicht nur einen arbeitsmarktpolitischen Zweck verfolgt, sondern auch eine individualschützende Komponente enthält.

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Konsequenzen

Dem Urteil kommt unmittelbare Bedeutung bei der Umstrukturierung und Sanierung von Unternehmen zu. Der Arbeitgeber hat die Vorgaben des BAG zu beachten, um nicht die mögliche Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen zu riskieren. Bei der Reichweite der Auswirkungen einer unwirksamen Massenentlassungsanzeige ist zwischen den möglichen Fehlern zu unterscheiden:

> Fehlt die Stellungnahme des Betriebsrats, sind alle ausgesprochenen Kündigungen unwirksam.

> Ist Zahl der zu kündigenden Arbeitnehmer zu niedrig angegeben, kann sich hierauf nur ein Arbeitnehmer berufen, den die Anzeige fehlerhaft nicht erfasst.

Insbesondere bei der Stellungnahme des Betriebsrats sollte der Arbeitgeber prüfen, ob sie den Anforderungen entspricht. Ist dies nicht der Fall, kann er auch nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG glaubhaft machen, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige unterrichtet hat, und den Stand der Beratungen darlegen. Dies ist jedoch mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen, der die Stellungnahme nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt.

Auf eine Heilung durch einen bestandskräftigen Bescheid der AfA kann sich der Arbeitgeber seit diesem Urteil nicht mehr berufen.

Praxistipp

Bei der Erstellung der Massenentlassungsanzeige ist größte Sorgfalt geboten, damit die Kündigungen wirksam sind. Der Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste kann die Stellungsnahme des Betriebsrats ersetzen. Diese Möglichkeit sollte man in der Praxis in Betracht ziehen, um der Anzeigepflicht wirksam nachzukommen.

RAin und FAin für Arbeitsrecht Kerstin Hennes, Allen & Overy LLP, Frankfurt am Main

Redaktion (allg.)

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