Punkteschema zustimmungspflichtig

1. Ein Punkteschema für die soziale Auswahl ist auch dann eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie, wenn es der Arbeitgeber nicht generell auf alle künftigen betriebsbedingten Kündigungen, sondern nur auf konkret bevorstehende Kündigungen anwenden will.


2. Verletzt der Arbeitgeber in einem solchen Fall das Mitbestimmungsrecht, kann ihm auf Antrag des Betriebsrats die Wiederholung des mitbestimmungswidrigen Verhaltens auf der Grundlage des allgemeinen Unterlassungsanspruchs gerichtlich untersagt werden.

BAG, Beschluss vom 26. Juli 2005 - 1 ABR 29/04 § 95 Abs. 1 BetrVG, § 1 Abs. 4 KSchG

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Problempunkt

Die Arbeitgeberin betreibt ein Möbelhaus und beschäftigt etwa 200 Arbeitnehmer. Sie informierte den Betriebsrat über einen geplanten Personalabbau und legte dabei eine Mitarbeiterliste und ein Punkteschema für die Sozialauswahl bei den vorgesehenen Kündigungen vor. In der Folgezeit sprach sie unter Anwendung dieses Schemas betriebsbedingte Kündigungen aus. Der Betriebsrat stellte sich auf den Standpunkt, dass er ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Aufstellung der Auswahlrichtlinie habe. Er beantragte beim Arbeitsgericht, der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne seine Zustimmung Punktesysteme bei Kündigungen anzuwenden.

Entscheidung

Das BAG sprach dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zu und gab dem Unterlassungsantrag statt. Nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bedürfen Auswahlrichtlinien bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrats. Unter einer Auswahlrichtlinie versteht die Rechtsprechung Grundsätze, die zu berücksichtigen sind, wenn bei beabsichtigten Einzelmaßnahmen, zu entscheiden ist, welchen Personen gegenüber sie vorgenommen werden sollen. Durch Festlegung der Voraussetzungen soll die Maßnahme versachlicht und für die Betroffenen durchschaubarer gemacht werden. Die Auswahl wird jedoch letztlich durch den Arbeitgeber getroffen. Die Richtlinien schränken den Entscheidungsspielraum lediglich ein, ohne ihn grundsätzlich zu beseitigen. Diese Grundsätze sind ebenfalls für Auswahlrichtlinien bei Kündigungen zu beachten. Das Mitbestimmungsrecht erfasst auch Richtlinien, die für konkret anstehende Kündigungen bestimmt sind. Ein ausreichender kollektiver Bezug ist bereits dann gegeben, wenn eine Auswahl in Betracht kommender Arbeitnehmer zu treffen ist.

Im vorliegenden Fall sollte das Punkteschema nur für eine konkrete Personalabbaumaßnahme gelten. Aufgrund der Streichung mehrerer Stellen mussten aber die Sozialdaten mehrerer Arbeitnehmer verglichen werden, um diejenigen zu bestimmen, die betriebsbedingt zu kündigen waren. Die Arbeitgeberin hatte deshalb das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt.

Die hohen Anforderungen an den gesetzlichen Unterlassungsanspruch bei groben Verstößen des Arbeitgebers (§ 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG) sah das BAG allerdings als nicht gegeben an. Ein solcher Anspruch besteht nur, wenn es sich um objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzungen des Arbeitgebers handelt. Daran fehlt es jedoch, wenn dieser in einer schwierigen und ungeklärten Rechtsfrage eine bestimmte, sich später als unzutreffend herausstellende Rechtsansicht vertritt. Hier war die Arbeitgeberin einer Rechtsansicht des LAG Niedersachen gefolgt, so dass ein grober Verstoß verneint wurde.

Allerdings besteht nach der Rechtsprechung des BAG grundsätzlich ein allgemeiner Unterlassungsanspruchs. Dieser ergibt sich als Nebenpflicht aus dem Mitbestimmungsrecht in Verbindung mit dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG). Das Gericht hat einen solchen Anspruch bisher nur im Zusammenhang mit den Mitbestimmungsrechten in sozialen Angelegenheiten (§ 87 BetrVG) angenommen. Die Ausweitung auf die Mitbestimmung bei der Festlegung von Auswahlrichtlinien hat es damit begründet, dass andernfalls ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG sanktionslos bliebe Die erforderliche Wiederholungsgefahr hat das BAG aufgrund des Verstoßes gegen das Mitbestimmungsrecht in der Vergangenheit bejaht.

#ArbeitsRechtKurios: Amüsante Fälle aus der Rechtsprechung deutscher Gerichte - in Zusammenarbeit mit dem renommierten Karikaturisten Thomas Plaßmann (Frankfurter Rundschau, NRZ, Berliner Zeitung, Spiegel Online, AuA).

Konsequenzen

Soll die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen nach einem Punkteschema erfolgen, muss zuvor die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt werden. Geschieht das nicht, kann der Betriebsrat den Arbeitgeber (gerichtlich) auf Unterlassung des Ausspruchs der geplanten Kündigung in Anspruch nehmen. Holt der Arbeitgeber die Zustimmung zu einem Punkteschema ein, kann dies zu erheblichen Verzögerungen führen. Denn kann keine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt werden, muss die Einigungsstelle angerufen werden, was nicht selten mehrere Monate in Anspruch nehmen kann.

Eine nachvollziehbare Begründung vor Ausspruch einer Kündigung mit Sozialauswahl ist bei einem umfangreicheren Personalabbau wohl nur durch Anwendung eines Punkteschemas möglich. Hat der Arbeitgeber hierzu nicht die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt, kann dieser seine einwöchige Frist zur Stellungnahme im Anhörungsverfahren dafür nutzen, dem Arbeitgeber den Ausspruch der betriebsbedingten Kündigungen gerichtlich zu untersagen, bis die Zustimmung zum Punkteschema eingeholt oder durch den Spruch einer Einigungsstelle ersetzt ist.

Erreicht der geplante Personalabbau die Qualität einer Betriebsänderung, muss der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich und Sozialplan verhandeln (§ 112 BetrVG). Betriebsräte nutzen diese Verhandlungen häufig, um den Personalabbau zu verzögern. Von den Landesarbeitgerichten wird unterschiedlich beurteilt, ob die Betriebsräte dem Arbeitgeber den Ausspruch von Kündigungen gerichtlich untersagen lassen können, bis ein Interessenausgleich geschlossen ist oder die Verhandlungen hierüber gescheitert sind. Soweit dies im jeweiligen Gerichtsbezirk verneint wird, könnten die Betriebsräte nun gestützt auf die Entscheidung des BAG versuchen, die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung bei fehlender vereinbarter Auswahlrichtlinie zu verzögern.

Dagegen wird allein die fehlende Beteiligung des Betriebsrats bei der Aufstellung eines Punkteschemas die Wirksamkeit der ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen wohl nicht berühren. Hierzu hat sich das BAG zwar nicht geäußert. Jedoch bedarf es dieser weiteren Sanktion nicht, denn der gekündigte Arbeitnehmer ist durch die fehlende Beteiligung des Betriebsrats nicht rechtlos gestellt, sondern kann die Sozialauswahl im Kündigungsschutzverfahren überprüfen lassen (§ 1 Abs. 3 KSchG).

Praxistipp

Um die aufgezeigten Konsequenzen zu vermeiden, könnte man versuchen, sich von Punkteschemas zu lösen und die Sozialausauswahl für die jeweilige betriebsbedingte Kündigung aufgrund des jeweiligen Einzelfalls zu treffen. Dies ist jedoch zu aufwändig. Ferner besteht die Gefahr, dass man sich im Kündigungsschutz dem Einwand aussetzt, dass dem Betriebsrat im Anhörungsverfahren nicht alle maßgeblichen Gründe mitgeteilt wurden. Die Kündigung wäre dann unwirksam (§ 102 Abs. 1 Satz 3 KSchG). Sicherer ist es, wenn man mit dem Betriebsrat bereits im Vorfeld eine allgemeine Auswahlrichtlinie für die Sozialauswahl bei zukünftigen betriebsbedingten Kündigungen verhandelt. Das lohnt sich auch deshalb, weil die Gewichtung der sozialen Kriterien im Kündigungsschutzprozess dann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit hin überprüft werden kann (§ 1 Abs. 4 KSchG). Der Betriebsrat wird zwar wahrscheinlich fragen, ob ein Personalabbau bevorsteht. Der Arbeitgeber kann jedoch mit seinem Initiativrecht den Anstoß für die Verhandlung einer Auswahlrichtlinie auch unabhängig von bevorstehenden Personalabbaumaßnahmen geben. Außerdem kann er den Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung - notfalls über die Einigungsstelle - durchsetzen. Steht tatsächlich ein Personalabbau unmittelbar bevor, lässt sich eine Auswahlrichtlinie bei den ggf. erforderlichen Verhandlungen eines Interessenausgleichs und Sozialplans einbringen. Anders als bei einer Namensliste muss der Betriebsrat über die Richtlinie verhandeln. Dafür besteht natürlich dann kein Bedarf, wenn es um die komplette Schließung eines Betriebs geht, weil dann keine Sozialauswahl vorgenommen werden muss.

RA Lars Mohnke, Lovells, München

Redaktion (allg.)

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