Tariflicher Verfall von Lohnansprüchen nach Betriebsübergang

Tritt die Fälligkeit von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis, die sich im Laufe eines Kündigungsschutzprozesses für die Zeit nach der streitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergeben, erst ab Rechtskraft der Entscheidung, durch die das Weiterbestehen des Arbeitsverhältnisses festgestellt wird, ein, so gilt dies nicht für die Rechtskraft anderer Entscheidungen über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses, unabhängig von einer Kündigung.

BAG, Urteil vom 12. November 1998 - 8 AZR 301/97 §§ 613a, 615 BGB; § 22 Manteltarifvertrag für die Arbeiter in der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen-Anhalt v. 6.3.1991

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Problempunkt

Der Kläger war seit 1963 in einem Betrieb der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis waren die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Sachsen-Anhalt anzuwenden. Ab dem 1. Oktober 1994 nahm die Beklagte eine von ihr als solche bezeichnete Betriebsspaltung vor, indem sie einen neuen Betrieb (IPC-B) einrichtete. Die Beklagte hielt alle Gesellschafteranteile der IPC-B, deren alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Prokurist der Beklagten war.

Mit Vertrag vom 14. Oktober 1994 übernahm die IPC-B von der Beklagten Aufträge und löste bereits abgearbeitete Aufträge bei der Beklagten ab. Eine Nutzungsvereinbarung zwischen der Beklagten und der IPC-B vom 15. Dezember 1994 regelte die Bedingungen für die Miete von Anlagen und Räumlichkeiten der Beklagten durch die IPC-B sowie die Gegenleistungen für die Tätigkeit des Geschäftsführers. Die Arbeitnehmer des Betriebes erhielten jedoch weiterhin Weisungen vom Geschäftsführer der Beklagten und nutzten deren Verwaltungsräume. Die Beklagte verwaltete ab 1. Oktober 1994 in der EDV und der Lohnabrechnung zwar zwei Unternehmen, führte aber Steuern und Sozialabgaben unter ihrer einheitlichen Steuer- bzw. Betriebsnummer ab.

Nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über das Vermögen der IPC-B am 1. Juli 1995 kündigte deren Verwalter wegen Betriebsstilllegung das Arbeitsverhältnis des Klägers, der daraufhin seine Arbeitskraft vergeblich der Beklagten anbot. Er begehrte deshalb vor dem Arbeitsgericht die Feststellung, zwischen ihm und der Beklagten habe seit 1963 ein Arbeitsverhältnis bestanden, da am 1. Oktober 1994 keine Betriebsspaltung erfolgt sei. Zudem klagte er wegen Annahmeverzugs in den Monaten Juli 1995 bis November 1996 seinen Lohn nebst einer tariflichen Sonderzahlung ein. Die Beklagte berief sich demgegenüber auf den Betriebsübergang und sah die Ansprüche des Klägers zudem aufgrund einer tariflichen Verfallsklausel als hinfällig an.

Das Landesarbeitsgericht stellte nach gegenteiliger Entscheidung des Arbeitsgerichts das Bestehen des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten fest. Die von ihr eingelegte Revision hatte keinen Erfolg.

Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht ging im Rahmen seiner Prüfung, ob das ursprünglich zwischen dem Kläger und der Beklagten begründete Arbeitsverhältnis nach § 613a Abs. 1 BGB auf die IPC-B übergegangen war, auf die Voraussetzungen eines Betriebsübergangs ein. Ein solcher erfordere die Wahrung der Identität der übergegangenen wirtschaftlichen Einheit sowie den Wechsel des Betriebsinhabers. Für den Übergang der wirtschaftlichen Einheit, als organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung, seien im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter anderem ""die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel (...), der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit"" zu berücksichtigen.

In Fortsetzung der ständigen Rechtsprechung des BAG wies der erkennende 8. Senat darauf hin, dass das Gleichbleiben der Tätigkeit im Betrieb allein noch nicht die Identität der wirtschaftlichen Einheit ausmache. Für den Wechsel des Betriebsinhabers fordert er einen Personenwechsel, wobei der bisherige Inhaber seine wirtschaftliche Betätigung in dem Betrieb oder Betriebsteil einstellen müsse. Auf eine wie auch immer geartete Übertragung von Leitungsmacht komme es nicht an, allerdings müsse der neue Inhaber den Betrieb auch tatsächlich führen. Die bloße buchhalterische Trennung der Betriebe sowie Benachrichtigung der Arbeitnehmer über eine vermeintliche Betriebsspaltung genüge dafür nicht. Gegen eine eigenständige Führung des Betriebes durch die IPC-B spreche nach Ansicht des Senats zudem, dass sämtliche Betriebsmittel und Nutzungsrechte von der Beklagten abgeleitet wurden. Die Identität der Führungspersonen zweier Betriebe sei demgegenüber für sich allein kein Indiz gegen eine eigenständige Führung des neuen Betriebes, sie erfordere aber entgegen der Praxis im entschiedenen Fall eine klare Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche und ein deutliches Auftreten für die eine oder die andere wirtschaftliche Einheit.

Da demnach kein Betriebsübergang vorgelegen habe, kam das BAG zu dem Schluss, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht auf die IPC-B übergegangen war. Dies wiederum führte zu einem Annahmeverzug der Beklagten und damit zu den geltend gemachten Lohnansprüchen gemäß § 615 BGB. Diese waren jedoch nach Ansicht des Senats teilweise verfallen.

Der einschlägige Manteltarifvertrag für die Arbeiter der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen-Anhalt vom 6. März 1991 (MTV) ordne den Verfall von Lohnansprüchen innerhalb von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit an. Eine Ausnahme sehe der MTV nur für Lohnansprüche vor, die während eines Kündigungsschutzprozesses entstehen. Bei einer derart klaren Wortwahl im Tarifvertrag sei die Ausnahmeregelung jedoch nicht auf Bestandsschutzstreitigkeiten wie die vorliegende anwendbar.

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Konsequenzen

Praxistipp

"Das Bundesarbeitsgericht führt mit der vorliegenden Entscheidung seine nunmehr gefestigte und an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der für die Auslegung des § 613a Abs. 1 BGB maßgeblichen Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/ EWG ausgerichtete Judikatur fort. Dementsprechend zieht das Gericht nicht den klassischen Betriebsbegriff heran, sondern stellt auf das Vorliegen einer ""wirtschaftlichen Einheit"" ab. Obwohl der Senat dies für den zu entscheidenden Sachverhalt bejaht, verneinte er mit Recht eine Übernahme der wirtschaftlichen Einheit durch die IPC-B. Zu einer von der Beklagten eigenständigen Führung des Betriebes durch die IPC-B war es - wie der Senat zutreffend herausgearbeitet hat - nicht gekommen."

Univ.-Prof. Dr. Hartmut Oetker, Jena

Redaktion (allg.)

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