Verlagerung eines Betriebsteils in die Schweiz

Die Verlagerung eines Betriebsteils ins grenznahe Ausland kann einen Betriebsübergang nach § 613a BGB für die bislang in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter auslösen.

(Leitsatz der Bearbeiter)

BAG, Urteil vom 26. Mai 2011 – 8 AZR 37/10

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Bild: Corgarashu / stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger war bei der Beklagten, einem Tochterunternehmen eines international ansässigen Konzerns, beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis wegen Betriebsstilllegung. Zugleich erhielt der Kläger ein Arbeitsvertragsangebot eines weniger als 60 Kilometer entfernten Schweizer Unternehmens, das ebenfalls ein Tochterunternehmen des Konzerns ist. Der Kläger lehnte ab. Danach veräußerte die Beklagte alle wesentlichen materiellen und immateriellen Produktionsmittel an das Schweizer Unternehmen. Der Kläger wandte sich gegen die Kündigung. Die Vorinstanzen hielten die Kündigung für unzulässig.

Entscheidung

Das BAG folgte der Auffassung der Vorinstanzen. Es handelte sich um keine Betriebsstilllegung, da zum Zeitpunkt der Kündigung eine Veräußerungsabsicht bestand. Der Beschäftigungsbereich des Klägers ging vielmehr im Wege des Betriebsübergangs auf das Schweizer Unternehmen über. Er stellt eine auf Dauer angelegte, hinreichend strukturierte und selbstständige wirtschaftliche Einheit dar, die nach deutschem Recht identitätswahrend auf das Schweizer Unternehmen übertragen wurde. Dem stand auch nicht entgegen, dass es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt handelte. Die Vorschrift des § 613a BGB ist auch bei einem Betriebsübergang von Deutschland ins Ausland zu beachten. Vor dem Übergang war deutsches Recht anzuwenden, da der Kläger seine Arbeitspflicht dauerhaft in Deutschland erfüllte. Damit galt das Verbot der Kündigung wegen eines Betriebsübergangs. Hiergegen verstieß die Beklagte, als sie dem Kläger kündigte. Infolge des Betriebsübergangs besteht jedoch kein Arbeitsverhältnis mehr mit der Beklagten. Ob und ggf. welche Ansprüche der Kläger gegen das Schweizer Unternehmen hat, musste das BAG nicht entscheiden.

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Konsequenzen

Das BAG setzte seine Rechtsprechungslinie zu Betriebsübergängen fort. Soweit die wesentlichen materiellen und immateriellen Produktionsmittel einer betrieblichen Einheit gemeinsam verlagert werden und die Produktion an einem neuen Standort weitergeführt wird, ist darin ein Betriebsübergang und keine Betriebsschließung zu sehen. Dem steht nicht entgegen, dass es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt handelt. Eine beträchtliche räumliche Distanz zwischen den Standorten kann – unabhängig von einer Auslandsverlagerung – jedoch dazu führen, dass die Identität der wirtschaftlichen Einheit nicht mehr gewahrt wird. Das BAG ließ allerdings offen, ab welcher Entfernung zum neuen Standort die wirtschaftliche Identität zerstört ist. Eine Entfernung von mehreren hundert Kilometern hielt es in einer älteren Entscheidung für zu groß (Urt. v. 25.5.2000 – 8 AZR 335/99). Nach der vorliegenden Entscheidung scheint eine Fahrtzeit von unter einer Stunde einem Betriebsübergang nicht entgegenzustehen, wenn der neue Standort unproblematisch zu erreichen ist.

Das Arbeitsvertragsstatut eines Arbeitnehmers, in dessen Vertrag keine Rechtswahl vereinbart ist, kann sich bei einem Wechsel von Deutschland ins Ausland infolge eines Betriebsübergangs ändern. Das BAG differenziert bei der rechtlichen Betrachtungsweise zwischen vor und nach Änderung des Arbeitsvertragsstatuts. Eine solche Änderung tritt aber erst ein, nachdem das Arbeitsverhältnis übergegangen ist und sich der Arbeitsort verlagert hat. Vor dem Betriebsübergang beurteilt sich die Rechtslage aufgrund des Territorialitätsprinzips nach deutschem Recht. Eine Kündigung ist daher wegen des Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam.

Auch durch einen grenzüberschreitenden Betriebsübergang dürfte sich allerdings der Arbeitsort nicht automatisch verlagern. Der neue Arbeitgeber muss vielmehr durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel – Versetzung im Rahmen des Direktionsrechts oder Änderungskündigung – den Arbeitsort der betroffenen Mitarbeiter ändern. Erst dann kommt nicht mehr deutsches, sondern das Recht des jeweiligen Staates zur Anwendung.

Praxistipp

Eine Standortverlagerung ins Ausland zerstört nicht zwingend die wirtschaftliche Identität des Betriebs, so dass schon deswegen kein Betriebsübergang stattfinden könnte. Vielmehr sind die Anforderungen an grenzüberschreitende Verlagerungen dieselben, die an eine Betriebsverlagerung innerhalb Deutschlands gestellt werden. Welche räumliche Entfernung zwischen dem alten und dem neuen Standort einzuhalten ist, bleibt offen. Müssen die Beschäftigten allerdings weder umziehen noch einen unzumutbaren Aufwand betreiben, um die neue Arbeitsstelle zu erreichen, wird die Distanz einem Betriebsübergang nicht entgegenstehen. Der Kündigungsschutz nach § 613a Abs. 4 BGB ist auch bei grenzüberschreitenden Betriebsübergängen zu beachten. Ab der Verlagerung des Arbeitsorts ins Ausland ist auf das Arbeitsverhältnis aufgrund des Territorialitätsprinzips nicht mehr deutsches, sondern das Recht des jeweiligen Landes anzuwenden. Die Frage des Kündigungsschutzes bspw. dürfte sich ab der Arbeitsortverlagerung ausschließlich nach dem jeweiligen nationalen Recht richten. Zum Thema s. auch Schröder/Abraham, AuA 12/11, S. 695 ff.

RA Paul Schreiner (Partner), RA Simona Markert, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Essen

Redaktion (allg.)

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