Verweigerte Abfindung wegen Anspruch auf Altersrente

1. Eine nationale Rechtsvorschrift ist nicht mit dem Verbot der Altersdiskriminierung der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar, wenn Arbeitnehmer keine Entlassungsabfindung beziehen können, weil sie Anspruch auf eine Altersrente des Arbeitgebers haben.

2. Es beeinträchtigt die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers übermäßig, wenn der Arbeitgeber die Zahlung einer Entlassungsabfindung nach der einschlägigen Vorschrift auch verweigern kann, wenn der Entlassene vorübergehend auf diese Rente verzichten möchte, um weiter zu arbeiten.

(Leitsätze der Bearbeiterin)

EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2010 – C-499/08

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Bild: Stefan-Yang / stock.adobe.com
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Problempunkt

In dem dänischen Vorlageverfahren zum EuGH (Rechtssache "Andersen") ging es um die Zahlung einer Entlassungsabfindung. Die beklagte Region Süddänemark kündigte Herrn Andersen nach 25 Jahren Beschäftigung. Nach dänischem Recht ist zwar bei der Entlassung eines Angestellten, der zwölf, 15 oder 18 Jahre lang ununterbrochen im selben Betrieb tätig war, eine Entlassungsabfindung zu zahlen. Davon ausgenommen sind jedoch Angestellte, die - wie der 63-jährige Herr Andersen - bei ihrer Entlassung die Möglichkeit haben, eine Altersrente aus einem arbeitgeberfinanzierten Rentensystem zu beziehen. Das Mindestbezugsalter für die Rente war hier kollektivvertraglich auf das 60. Lebensjahr festgesetzt. Herr Andersen meldete sich jedoch arbeitslos, da er noch nicht in den Ruhestand treten, sondern weiter arbeiten wollte. Die für ihn klagende Gewerkschaft hält die einschlägige Vorschrift für altersdiskriminierend.

Entscheidung

Der EuGH folgte dieser Auffassung. Die Ungleichbehandlung wegen des Alters liegt in dem ungerechtfertigten Ausschluss derjenigen Arbeitnehmergruppen von der Entlassungsabfindung, die das Mindestalter für den Bezug einer Altersrente erreicht haben. Zwar verfolgt das dänische Gesetz ein legitimes Ziel i. S. d. Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG, nämlich Arbeitnehmer mit langer Betriebszugehörigkeit den Übergang in eine neue Beschäftigung zu erleichtern, der aufgrund der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit schwierig ist. Auch stellt die Beschränkung auf Arbeitnehmer, die keine Altersrente beziehen können, auf sinnvolle Weise sicher, dass Arbeitgeber keine doppelte Entschädigung zahlen, die nicht mehr dem beschäftigungspolitischen Ziel dient, weil der Arbeitnehmer in den Ruhestand tritt. Die für die Begrenzung des Missbrauchs eingesetzten Mittel sind zudem angemessen. Die Regelung ist jedoch in einem Punkt unangemessen: Sie stellt Personen, die tatsächlich eine Rente erhalten, denjenigen gleich, die zum Bezug einer solchen Rente berechtigt sind. Arbeitnehmern, die auf dem Arbeitsmarkt bleiben wollen, wird die Abfindung also allein deshalb vorenthalten, weil sie aufgrund ihres Alters eine Rente in Anspruch nehmen könnten. Eine solche Maßnahme erschwert es ihnen, ihr Recht, zu arbeiten, weiter auszuüben.

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Konsequenzen

Obwohl die Entscheidung des EuGH zum dänischen Recht ergangen ist, kann sie auch Bedeutung für das deutsche Antidiskriminierungsrecht haben. Die EU-Nichtdiskriminierungsrichtlinie „Beschäftigung und Beruf“ ist Grundlage des AGG. Vom BAG bereits geklärt schien, dass der Arbeitgeber entsprechend § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG „rentennahe“ Mitarbeiter von Abfindungszahlungen im Rahmen von Sozialplanabfindungen ausschließen kann (BAG, Urt. v. 19.11.2009 – 6 AZR 561/08). Im Gegensatz zur dänischen Regelung bezieht sich § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG allein auf Sozialplanabfindungen, also Übergangsleistungen, die wirtschaftliche Nachteile infolge des Arbeitsplatzverlusts ausgleichen bzw. abmildern sollen. Dahinter steht das allgemeine sozialpolitische Interesse, dass Sozialpläne danach unterscheiden können, welche wirtschaftlichen Nachteile den Arbeitnehmern nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes jeweils drohen. Diese sind bei Mitarbeitern, die aufgrund ihrer Rentenberechtigung wirtschaftlich abgesichert sind, typischerweise wesentlich geringer als bei von längerer Arbeitslosigkeit bedrohten „rentenfernen“ Beschäftigten. Die Betriebsparteien können so die nicht unbegrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel dort einsetzen, wo sie tatsächlich benötigt werden, um wirtschaftliche Nachteile abzumildern. Der dänische Fall, deren Gesetz eine andere Zielrichtung hat, ist daher nicht 1:1 auf die deutsche Situation übertragbar.

Praxistipp

Auch nach der EuGH-Entscheidung gibt es daher gute Gründe, die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Gestaltung von (Abfindungs-)Sozialplänen und die Regelung in § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG weiter wie bisher anzuwenden und Abfindungen in Sozialplänen entsprechend zu staffeln oder gewisse Arbeitnehmer ganz auszuschließen. Arbeitgeber sollten jedoch im Blick behalten, ob und wie die deutsche Rechtsprechung die Andersen-Entscheidung aufgreift. Je nachdem könnte sich das auf den Verhandlungsspielraum der Sozialpartner bei Sozialplanverhandlungen auswirken.

RAin Kristina Huke, Abteilung Arbeitsrecht, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin

Redaktion (allg.)

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