Visapraxis bei Entsendung ist europarechtswidrig

Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen ihre Verpflichtung aus Artikel 49 EG verstoßen, indem sie sich nicht darauf beschränkt, die Entsendung von Arbeitnehmern, die Angehörige von Drittstaaten sind und in ihrem Hoheitsgebiet Dienstleistungen erbringen sollen, von der vorherigen Abgabe einer einfachen Erklärung durch das in einem anderen Mitgliedsstaat ansässige Unternehmen, das die Entsendung dieser Arbeitnehmer plant, abhängig zu machen, und indem sie verlangt, dass diese Arbeitnehmer seit mindestens einem Jahr bei diesem Unternehmen beschäftigt sind.

EuGH, Urteil vom 19. Januar 2006 - C-244/04 Art. 49 EGV

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Bild: Corgarashu / stock.adobe.com
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Problempunkt

Nach der Richtlinie 96/71/EG hatten die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass bestimmte Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Mitarbeitern die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, durch unterschiedliche Rechtsgrundlagen festgelegt sind. Der deutsche Gesetzgeber hatte die Entsendung von Arbeitnehmern, die Angehörige eines Drittstaats (also nicht EU-Bürger) sind, im bis zum 31.12.2004 geltenden Ausländergesetz geregelt. Ausländer, die sich länger als drei Monate im Bundesgebiet zur Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit aufhalten wollten, benötigten eine besondere Aufenthaltsgenehmigung. Unternehmen, die in Deutschland Dienstleistungen erbringen wollten, mussten deshalb dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter aus Drittstaaten ein Visum beantragen. Voraussetzung für die Vergabe war u.a. der Nachweis, dass der Arbeitnehmer seit mindestens einem Jahr bei dem Unternehmen, welches die Entsendung plant, beschäftigt ist. Die Kommission sah darin eine Behinderung der Dienstleistungsfreiheit. Die Visapraxis mit vorheriger Prüfung bestimmter Kriterien sowie einer Beschränkung der Entsendung auf Arbeitnehmer mit mindestens einem Jahr Betriebszugehörigkeit beim entsendenden Unternehmen begründe die Vertragsverletzungsklage.

Entscheidung

Der EuGH hat die Auffassung der Kommission bestätigt und festgestellt, dass die deutsche Regelung die Dienstleistungsfreiheit verletzt. Die vor Visumvergabe angeordnete Kontrolle ist geeignet, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit bei entsandten Drittstaatsangehörigen zu erschweren oder gänzlich unmöglich zu machen. Zur Verhinderung von Missbräuchen und Umgehungen des freien Dienstleistungsverkehrs ist die deutsche Regelung nicht erforderlich. Vielmehr ist eine einfache vorherige Erklärung des entsendenden Unternehmens, dass der Aufenthalt der betreffenden Arbeitnehmer in dem Mitgliedstaat ordnungsgemäß ist, ausreichend. Diese Erklärung bietet den nationalen Behörden die Garantie, dass die Mitarbeiter legal beschäftigt sind und ihre Haupttätigkeit in dem entsendenden Mitgliedstaat ausüben. Die Kontrollmaßnahmen lassen sich auch nicht dadurch rechtfertigen, dass sie zur Prüfung einer rechtmäßigen Entsendung notwendig seien. Denn die Verantwortung für eine unter rechtswidrigen Bedingungen erfolgte Entsendung tragen die Unternehmen. Mit dem Verweis auf die Möglichkeit, Tarifverträge über Mindestlöhne auf alle im Hoheitsgebiet beschäftigten Personen erstrecken zu können, wies der EuGH schließlich auch das Argument zurück, Sozialdumping verhindern zu wollen. Im Zeitpunkt der Klageeinreichung galt das Ausländergesetz, welches am 1.1.2005 durch das teils inhaltsgleiche Aufenthaltsgesetz abgelöst wurde. Dort wurde vom Erfordernis der einjährigen Beschäftigungszeit bereits Abstand genommen und eine 6-monatige Beschäftigung vorausgesetzt.

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Konsequenzen

Mit der Entscheidung hat der EuGH die bisherige deutsche Arbeitsvisumregelung für den Einsatz ausländischer Arbeitnehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind, ohne selbst EU-Bürger zu sein, für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt. Das gilt auch für die seit dem 1.1.2005 geforderte 6-monatige Beschäftigungszeit. Trotz der eindeutigen Formulierung des Urteils hat die Entscheidung aber noch keine unmittelbare Auswirkung auf die Praxis. Rechtsfolge des Feststellungsurteils ist die Verpflichtung des Mitgliedstaates, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil ergeben (Art. 228 EGV). Kommt Deutschland dieser Pflicht nicht nach, stellt dies wiederum eine Vertragsverletzung dar, welche Gegenstand eines weiteren Verfahrens werden und dann auch ggf. zur Zahlung eines Zwangsgeldes führen kann. Es ist damit zu rechnen, dass der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung von Sanktionen aktiv werden und die Umsetzung der durch den EuGH für ausreichend erachteten einfachen Erklärung gesetzlich regeln wird. Eine unmittelbare Drittwirkung der Entscheidung bzw. der letztlich zugrunde liegenden Richtlinie, die ohnehin nur gegenüber staatlichen Arbeitgebern in Betracht käme, scheidet aus, da eine - wenn auch unzureichende - Umsetzung in nationales Recht gegeben ist. An eine richtlinienkonforme Auslegung gegenüber privaten Arbeitgebern mag gedacht werden. Allerdings ist nach dem BAG eine solche Auslegung bei einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen nationalen Regelung ohnehin nicht möglich (BAG, Beschl. v. 18.2.2002 - 1 ABR 2/02). Hierum handelt es sich aber bei der deutschen Norm.

Praxistipp

Solange der Gesetzgeber die Feststellungen des EuGH-Urteils nicht in nationales Recht umgesetzt hat, sollten die entsendenden Unternehmen die derzeit gültigen Regelungen weiterhin beachten und für ein Arbeitsvisum ihrer drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer sorgen. Ein zeitliches Verschieben bereits geplanter Entsendungen in der Hoffnung, der nationale Gesetzgeber werde rasch entsprechend der Weisung des EuGH handeln, kann mangels Prognostizierbarkeit der gesetzgeberischen Aktivitäten nicht angeraten werden. Gleichwohl stellt die Entscheidung die Weichen für eine grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung. Nach erfolgter Umsetzung in nationales Recht kann man nicht unerhebliche Zeit- und Kostenersparnisse erwarten.

RA Thomas Klaes, Köln

Redaktion (allg.)

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