Wartezeitkündigung wegen HIV-Infektion

1. § 2 Abs. 4 AGG, wonach „für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz“ gelten, regelt für Kündigungen nur das Verhältnis zwischen dem AGG sowie den entspre­chenden speziellen Vorschriften. Die Norm erfasst demnach nicht ordentliche Kündigungen während der Wartezeit (§ 1 KSchG) und in Kleinbetrieben (§ 23 Abs. 1 KSchG).

2. Eine ordentliche Kündigung, die einen Arbeitnehmer, auf den das KSchG (noch) nicht anwendbar ist, aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe dis­kriminiert, ist nach § 134 BGB i. V. m. §§ 7 Abs. 1, 1, 3 AGG unwirksam.

3.  Geht das nationale Recht von einem weiteren Behinderungsbegriff aus als das supranationale Recht, ist der Behindertenbegriff in § 1 AGG maßgeblich. Danach liegt, ohne dass es auf einen bestimmten Grad der Behinderung (GdB) ankäme, eine Behinderung i. S. d. § 1 AGG vor, wenn aufgrund einer langfristigen Einschränkung der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder see­lischen Gesundheit eines Menschen – in Wechselwirkung mit verschiedenen sozialen Kontextfaktoren (Barrieren) – seine Teilhabe an der Gesellschaft einschließlich des Berufslebens substanziell beeinträchtigt sein kann (bio-psycho-sozialer Begriff der Behinderung).

4. Demzufolge ist eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung i. S. d. § 1 AGG.

5. Bei unionsrechtskonformer Auslegung ergibt sich aus § 241 Abs. 2 BGB, dass der Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen zu treffen hat, um Behinderten die Ausübung eines Berufs zu ermöglichen. Nur wenn der Arbeitgeber nicht imstande ist, durch solche Vorkehrungen das infolge der Behinderung bestehende Beschäftigungshindernis zu beseitigen, ist eine Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers wirksam. Diese Voraussetzung muss der Arbeitgeber darlegen.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12

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Bild: schemev / stock.adobe.com
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Problempunkt

Ein Pharmahersteller stellte einen Mitarbeiter befristet bis zum 5.12.2011 als chemisch-technische Assistenten ein. Er sollte im Reinraumbereich eingesetzt werden. Anlässlich seiner Einstellungsuntersuchung teilte er dem Betriebsarzt mit, er sei symptomfrei HIV-infiziert. Der Arzt äußerte in dem für eine Tätigkeit im Reinraum auszufüllenden Formular Bedenken gegen einen Einsatz im Reinraumbereich. In dem einschlägigen Leitfaden der EU-Kommission heißt es dazu: "Es sollten Vorkehrungen getroffen werden, die, soweit es praktisch möglich ist, sicherstellen, dass in der Arzneimittelherstellung niemand beschäftigt wird, der an einer ansteckenden Krankheit leidet oder offene Verletzungen an unbedeckten Körperstellen aufweist."

Am 4.1.2011 teilte der Betriebsarzt nach seiner Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht dem einen der beiden Geschäftsführer der Firma mit, der Kläger sei HIV-infiziert. Möglichkeiten zu dessen Beschäftigung außerhalb des Reinraumbereichs bestanden nicht. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zum 24.1.2011, Der Mitarbeiter klagte gegen die Kündigung; auch stehe ihm eine Entschädigung zu.

Der Fall wirft folgende, bisher überwiegend höchstrichterlich noch nicht geklärte Fragen auf:

> Gilt § 2 Abs. 4 AGG auch für Kündigungen in der Wartezeit (und im Kleinbetrieb)?

> Welcher Behindertenbegriff ist im Fall maßgebend?

> Stellt eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung i. S. d. § 1 AGG dar?

> Unter welchen Voraussetzungen ist eine (personenbedingte) Kündigung eines Behinderten in der Wartezeit wirksam?

Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen.

Entscheidung

Die Revision des Mitarbeiters war erfolgreich. Das BAG hob die zweitinstanzliche Entscheidung auf und verwies die Sache an das LAG zurück.

Das „Gerüst“ des Urteils des 6. Senats des BAG geht schon aus den Leitsätzen hervor. Bei dem „bio-psycho-sozialen“ Begriff des Behinderten bzw. der Behinderung wird Letztere nicht durch die individuelle Funktionsstörung, sondern durch die Beeinträchtigung der (gesellschaftlichen) Teilhabe definiert. Eine Behinderung liegt vor, wenn sich die Beeinträchtigung auf die Partizipation in einem oder mehreren Lebensbereichen auswirkt. Ob eine Beeinträchtigung relevant ist, ergibt sich demnach erst aus dem Zusammenwirken von behindernden sozialen Kontextfaktoren (Barrieren) und individueller Gesundheitsstörung. Eine Gesundheitsstörung kann auch darin liegen, dass die (gesellschaftliche) Teilhabe durch das Verhalten anderer beeinträchtigt wird. Behinderung ist nach diesem Verständnis sowohl persönliche Eigenschaft als auch soziales Verhältnis. Eine Behinderung in diesem Sinne kann demnach auch erst durch das „Behindern“ eines Menschen durch seine Umwelt entstehen.

Der Kläger wird durch seine HIV-Infektion als chronische Erkrankung im erforderlichen Maß an der Teilhabe am Leben beeinträchtigt. Unerheblich ist dabei, dass seine Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist. Es genügt, dass er in interpersonellen Beziehungen und bei der Arbeit Stigmatisierungen ausgesetzt sein kann.

Diese schwer nachvollziehbare Definition lässt es als denkbar erscheinen, dass ein Mensch auch ohne biologische oder psychische Funktionsstörung als behindert i.?S.?d. §?1 AGG angesehen werden könnte/müsste, weil seine Teil­habe an der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Beispiel: Ein Mensch wird von Mitgliedern seines bisherigen Freundeskreises zunehmend „gemobbt“. Das ruft keine seelischen oder körperlichen Beeinträchtigungen bei ihm hervor, aber er meidet zukünftig den Kontakt zu seinem bisherigen Freundeskreis.

Ist dieser Mensch deswegen „behindert“?

Dem LAG gab der 6. Senat des BAG auf, vor seiner erneuten Entscheidung in der Sache der Beklagten Gelegenheit zu geben, insbesondere zu folgenden Punkten ihren Vortrag zu ergänzen und zu konkretisieren:

> Produkte und Produktionsbedingungen,

> Tätigkeit des Mitarbeiters im Reinraum,

> Möglichkeit, durch angemessene Vorkehrungen – d.?h. wirksame und praktikable, die Firma nicht unverhältnismäßig belastende Maßnahmen – den Einsatz des Klägers im Reinraum zu organisieren.

In diesem Buch werden die verschiedensten Aspekte für Praktiker umfassend dargestellt und der Aufbau und die Systematik des Arbeitsschutzes, Compliance-relevanter Aspekte, Rechte und Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erläutert.

Konsequenzen

Das Urteil schafft in einem für die Praxis wich­tigen Punkt Klarheit: Nur die speziell für Kün­digungen geltenden Vorschriften – vor allem das KSchG – sind von §?2 Abs.?4 AGG betroffen, nicht jedoch auf Kündigungen anwendbare Regelungen des allgemeinen Rechts, wie §§?138 und 242 BGB sowie das AGG.

Dafür, was das in der Praxis bedeutet, ist der vom 6. Senat des BAG entschiedene Fall ein anschauliches Beispiel. Die Wartezeitkündigung gegenüber einem Mitarbeiter ohne HIV-Infek­tion oder sonstige Behinderung ist in aller Regel problemlos möglich. Die Meinungsbildung des Arbeitgebers, ob ein neuer Arbeitnehmer seinen Vorstellungen entspricht, unterliegt – von Missbrauchsfällen abgesehen – keiner Überprüfung nach objektiven Maßstäben. Die prinzipielle Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers in der Wartezelt ist verfassungsrechtlich geschützt (vgl. Hunold, AuA 4/14, S.?212?ff.).

Er ist nicht verpflichtet, eine anderweitige Einsatzmöglichkeit für den Beschäftigten zu prüfen und – falls vorhanden – umzusetzen.

Ganz anders die Situation im Fall: Der Mitarbeiter ist zwar – wie das BAG feststellt (Rdnr.?51) – mit einem GdB von 10 allenfalls „einfach“ Behinderter. Da es aber – anders als bei der Feststellung einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung nach dem SGB IX – für die Anwendbarkeit des AGG nicht auf einen bestimmten GdB ankommt, genießt der symptomlos HIV-infizierte Arbeitnehmer den vollen Schutz des AGG, mit der Folge, dass das Unternehmen verpflichtet war, den Punkt „angemessene Vorkehrungen“ für eine Weiterbeschäftigung im Reinraum zu prüfen und ggf. zu realisieren. Dass entsprechende Möglichkeiten seinerzeit nicht bestanden, heute – ca. 3 1/2 Jahre nach Ausscheiden des Mitarbeiters (!) – noch substanziiert darzulegen und zu beweisen, dürfte dem Arbeitgeber schwerfallen.

Praxistipp

Unternehmen ist zu empfehlen, anhand des Falles die Beschäftigten, die es angeht, entsprechend zu schulen und dafür zu sensibilisieren, was im Falle eines Falles ggf. auf sie zukommen könnte.

Dr. Wolf Hunold, Unternehmensberater, Neuss

Redaktion (allg.)

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