Entwurf zur Arbeitszeiterfassung: 1:1-Umsetzung der gerichtlichen Vorgaben

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 Bild: Jannissimo / stock.adobe.com
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Nach den unionsrechtlichen Vorgaben in Form des „Stechuhr-Urteils“ des EuGH bereits aus Mai 2019 bestand kein Zweifel mehr, dass die Arbeitszeit erfasst werden muss. Gleichwohl war der nationale Gesetzgeber zunächst nicht tätig geworden, der aktuelle Koalitionsvertrag sah daher auch vorerst eine weitere Evaluation der Thematik vor. Frischen Wind brachte aber eine Entscheidung des BAG aus September letzten Jahres, als die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter entschieden, dass nach dem derzeit geltenden Arbeitsschutzrecht bereits eine Pflicht zur Zeiterfassung besteht. Nunmehr liegt – seit Mitte April 2023 – ein erster Gesetzesentwurf zur Einführung einer allgemeinen Pflicht zur elektronischen Zeiterfassung vor, dessen wesentliche Kernpunkte nachstehend überblicksartig dargestellt werden sollen.

1. Regelungssystematik

Die Neuregelung erfolgt im Wesentlichen im Rahmen von § 16 ArbZG. Dort wird der Abs. 2 neu gefasst und die neuen Absätze 3 bis 8 angefügt. Dieser Regelungsort ist stimmig, zumal § 16 Abs. 2 ArbZG bereits bislang die Erfassung der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit regelte. Der Entwurf beschränkt sich aber auf die Umsetzung der gerichtlichen Vorgaben. Er ist in vielen Teilen eine 1:1-Umsetzung. Weitergehende Änderungen wie z. B. eine jüngst diskutierte Flexibilisierung der täglichen Arbeitszeit bei Wahrung der in der europäischen Arbeitszeitrichtlinie verankerten wöchentlichen Höchstarbeitszeit sind nicht erfolgt. Ein „großer Wurf“ ist also ausgeblieben.

2. Pflicht zur tageweisen und elektronischen Arbeitszeiterfassung

Die Erfassung der Arbeitszeit (Beginn, Ende und Dauer) muss am Ende des Arbeitstages erfolgen. Sie muss elektronisch erfolgen (§ 16 Abs. 2 ArbZG-E). Vom Wortlaut betrachtet ist die Erfassung also kalendertageweise vorzunehmen. Auch bei einer Nachtschicht, die über zwei Kalendertage geht, ist also mit Tagesende die jeweilige Arbeitszeit zu erfassen. Der EuGH (Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18) verlangte nur eine „objektive“ Erfassung der Arbeitszeit. Das BAG (Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21) machte an die Form der Erfassung ebenfalls keine Vorgaben. Der Entwurfist insoweit strenger, da er die elektronische Form im Grundsatz vorschreibt und verlangt, täglich zu erfassen. Elektronisch heißt hiernach per App, per betrieblichem System – aber auch per Erfassung in einer Excel-Tabelle.

3. Arbeitgeber ist in der Verantwortung

Der Arbeitgeber ist in der Verantwortung der Erfassung. Er kann die Erfassung aber auf den Arbeitnehmer delegieren, bleibt jedoch verantwortlich für die ordnungsgemäße Aufzeichnung (§ 16 Abs. 3 ArbZG-E). Die Möglichkeit der Delegation der Erfassung wurde auch nach BAG-Beschluss (a. a. O.) weiterhin für möglich angesehen (Fuhlrott/Fischer, ArbRAktuell 2023, S. 1). Begründet man die Erfassungspflicht mit arbeitsschutzrechtlichen Aspekten, ist es konsequent, dass der Arbeitgeber dafür verantwortlich bleibt.

4. Vertrauensarbeitszeit bleibt möglich

Der Arbeitgeber kann auf die Kontrolle der Arbeitszeit verzichten, der Arbeitnehmer bleibt aber zur Aufzeichnung verpflichtet (§ 16 Abs. 4 ArbZG-E). In der Entwurfsbegründung wird dazu betont, dass Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich bleiben soll. Der Arbeitgeber müsse dann aber „durch geeignete Maßnahmen“ sicherstellen, dass ihm Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zur Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden. Weiter heißt es, „Arbeitszeitaufzeichnung und ‚Vertrauensarbeitszeit‘ schließen sich nicht aus. Insbesondere eine elektronische Aufzeichnung erleichtert es dem Arbeitgeber, die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit aufzuzeichnen, ohne die vertragliche Arbeitszeit kontrollieren zu müssen.“ Vertrauensarbeitszeit ohne Zeiterfassung ist nicht mehr möglich; das war aber auch schon eine vor dem Entwurf bestehende Erkenntnis.

5. Auskunftspflicht und Aufbewahrungspflicht zu Zeitnachweisen

Arbeitnehmer müssen auf Anfrage eine Auskunft zur aufgezeichneten Arbeitszeit erhalten (§ 16 Abs. 5 ArbZG-E). Eine solche Auskunft wäre auch im Wege von Art. 15 DSGVO bereits möglich; der EuGH verlangt zudem ausdrücklich eine entsprechende Herausgabe, wenn er in seinem Urteil von einer „zugänglichen“ Zeiterfassung spricht.

Die Nachweise sind für die gesamte Dauer der Beschäftigung, maximal jedoch für zwei Jahre aufzubewahren (§ 16 Abs. 6 ArbZG-E).

Das Buch geht auf die realen Arbeitssituationen, die im Umbruch sind, ein und zeigt sowohl arbeitsrechtliche Herausforderungen als auch erste, bereits in der Unternehmenspraxis umgesetzte Lösungsansätze auf.

6. Tarifvertrags- und Betriebsparteien haben Gestaltungsspielraum

Per Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags sind mittels Betriebsvereinbarung Abweichungen möglich: So kann danach ausnahmsweise eine papierne Aufzeichnung erfolgen (§ 16 Abs. 7 Nr. 1 ArbZG-E), eine spätere Aufzeichnung, maximal nach sieben Tagen (§ 16 Abs. 7 Nr. 2 ArbZG-E), vereinbart werden und ist eine Aufzeichnung entbehrlich bei Arbeitnehmern, bei denen die Arbeitszeit wegen der besonderen Tätigkeitsmerkmale nicht gemessen, nicht festgelegt oder selbst bestimmt werden darf (§ 16 Abs. 7 Nr. 3 ArbZG-E). Zwar ermöglicht dieser Absatz angepasste betriebliche Lösungen, wenn die Tarifvertragsparteien mitwirken. Allerdings darf die letztgenannte Ausnahme nicht „überschätzt“ werden. Denn sie gilt nur für eine eng abgegrenzte Gruppe, für die auch die europäische ArbZ-RL 2003/88/EG selbst Ausnahmen zulässt, wie die Entwurfsbegründung betont: „Die Voraussetzungen für die Anwendung der Regelung in § 16 Absatz 7 Nummer 3 ArbZG können etwa bei Führungskräften, herausgehobenen Experten oder Wissenschaftlern gegeben sein, die nicht verpflichtet sind, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend zu sein, sondern über den Umfang und die Einteilung ihrer Arbeitszeit selbst entscheiden können.“ Da leitende Angestellte gem. § 18 ArbZG ohnehin nicht vom ArbZG erfasst werden – hieran ändert sich nichts –, sind diese mit dieser Regelung nicht gemeint. Auch außertarifliche Arbeitnehmer werden, da diese vom Anwendungsbereich des Tarifvertrags nicht umfasst sind, hiervon nicht profitieren.

7. Übergangsfristen und Inkrafttreten, Kleinbetriebe

Der Entwurf soll mit dem ersten Tag des auf die Verkündung erfolgenden Quartals in Kraft treten. Zeitlich gestaffelte Übergangsfristen bestehen zudem für die Art (das „Wie“, nicht das „Ob“) der Erfassung. Alle Arbeitgeber dürfen sich – unabhängig von ihrer Größe – ein Jahr lang Zeit lassen, bis die Pflicht zur Erfassung in elektronischer Form greift. Sodann gibt es eine weitere Staffelung nach Unternehmensgröße. Unternehmen, die weniger als 250 Arbeitnehmer, und solche, die weniger als 50 Arbeitnehmer beschäftigen, dürfen noch länger, nämlich ein bzw. vier weitere Jahre, die Arbeitszeit auch nicht elektronisch erfassen. Kleinbetriebe mit bis zu zehn Arbeitnehmern dürfen schließlich dauerhaft die Zeiterfassung nicht elektronisch vornehmen. Auch hier macht der Gesetzgeber von den Gestaltungsoptionen Gebrauch, die der EuGH (a. a. O., Rn. 63) in seinem Urteil zulässt, welches ausdrücklich bei der Erfassungspflicht eine Differenzierung nach Größe der Unternehmen für möglich hält. Die denkbare Option, Kleinbetriebe generell von der Zeiterfassung auszunehmen, hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen (s. dazu Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, S. 263 [265]).

8. Geldbußen

Verstöße gegen die neue Erfassungspflicht sind mit Inkrafttreten des Gesetzes bußgeldbewehrt. In § 22 ArbZG-E, der Verstöße mit Geldbußen bis zu 30.000 Euro sanktioniert, sind die Erfassungspflicht gem. § 16 Abs. 2 ArbZG-E und die Auskunftspflicht gem. § 16 Abs. 5 ArbZG-E nunmehr ausdrücklich aufgenommen.

Prof. Dr. Michael Fuhlrott

Prof. Dr. Michael Fuhlrott
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, FUHLROTT Arbeitsrecht, Hamburg
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