Mindestlohn: arbeitsvertragliche Ausschlussfrist in Verträgen seit 1.1.2015

§§ 305 ff. BGB; § 3 Abs. 1 MiLoG

Eine vom Arbeitgeber vorformulierte arbeitsvertragliche Verfallklausel, die ohne jede Einschränkung alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und damit auch den ab dem 1.1.2015 von § 1 MiLoG garantierten Mindestlohn erfasst, verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Sie ist insgesamt unwirksam, wenn der Arbeitsvertrag nach dem 31.12.2014 geschlossen wurde.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 18.9.2018 – 9 AZR 162/18

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Problempunkt

Der Kläger war bei dem Beklagten als Fußbodenleger beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis liegt ein schriftlicher Arbeitsvertrag vom 1.9.2015 zugrunde, welcher eine Ausschlussklausel beinhaltet. Danach verfallen alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind. Nachdem der Beklagte das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Das Verfahren wurde durch einen Vergleich beendet, dem zufolge das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 15.8.2016 endet und bis dahin vertragsgemäß abgerechnet wird. Die seitens des Beklagten erstellte und dem Kläger am 6.10.2016 zugegangene Abrechnung für August 2016 wies keine Urlaubsabgeltung aus. Der Kläger machte daraufhin am 17.1.2017 den Anspruch auf Urlaubsabgeltunggerichtlich anhängig. In dem Verfahren hat sich der Beklagte darauf berufen, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung verfallen sei, weil der Kläger ihn nicht rechtzeitig innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht habe. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen, nachdem das ArbG Hamburg ihr noch stattgegeben hatte.

Entscheidung

Das BAG hat das Berufungsurteil aufgehoben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederhergestellt. Der Kläger hat nach § 7 Abs. 4 BUrlG einen Anspruch auf Abgeltung von 19 Urlaubstagen mit insgesamt 1.687,20 Euro brutto. Dieser ist auch nicht wegen der vorliegenden Versäumung der vertraglichen Ausschlussfrist verfallen, da er nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden musste.

Die Ausschlussklausel ist unwirksam und daher ersatzlos aus dem im Übrigen wirksamen Arbeitsvertrag zu streichen. Sie verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Ausschlussklausel ist nicht klar und verständlich, weil sie unter Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG den ab dem 1.1.2015 zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn nicht ausdrücklich ausnimmt. Die Klausel ist deshalb gem. § 306 Abs. 1 BGB insgesamt unwirksam. Sie kann folglich auch nicht für den hier gegenständlichen Anspruch auf Urlaubsabgeltung aufrechterhalten werden.

Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)

Konsequenzen

Das Urteil erscheint in seiner Wirkung zunächst begrenzt. Es umfasst nur Ausschlussklauseln, die in Arbeitsverträgen seit dem 1.1.2015, also dem Inkrafttreten des allgemeinen und flächendeckenden Mindestlohns, geschlossen wurden.

Diese müssen der Unverzichtbarkeit des Mindestlohns Rechnung tragen. Das folgt unmittelbar aus § 3 Satz 1 MiLoG, der die Unverzichtbarkeit bereits dem Wortlaut nach deutlich formuliert. Der Sinn und Zweck der Norm ist auch genau auf diese Unverzichtbarkeit gerichtet.

Diese gesetzgeberische Entscheidung findet Eingang in die arbeitsvertraglich durchzuführende AGB-Kontrolle der Ausschlussklausel. Danach kann eine Vertragsklausel sowohl aus ihrem Regelungsgehalt heraus wegen einer ganz wesentlichen Abweichung vom gesetzlichen Grundgedanken als auch wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot unwirksam sein. Beides ist hier der Fall. Der 9. Senat nimmt eine solche AGB-Kontrolle vor und kommt wegen des zutreffend festgestellten Verstoßes zur Anwendung der Rechtsfolgenregelung des § 306 BGB. Danach ist eine unwirksame Klausel aus dem Vertrag zu streichen. Die dadurch entstehende Lücke wird durch die Anwendung der gesetzlichen Regelungen geschlossen. Das sind vorliegend die Vorschriften zur Regelverjährung der §§ 195, 199 BGB.

Das BAG stellt richtigerweise klar, dass eine geltungserhaltende Reduktion der Ausschlussklausel nicht möglich ist. Mit dieser würde die Klausel auf den gerade noch rechtlich zulässigen Regelungsgehalt zurückgeführt. Eine solche Maßnahme ist dem AGB-Recht wesensfremd. Dieses weist das Risiko der Verwendung von AGBs demjenigen zu, der sie zur Anwendung bringt (Verwenderrisiko). Das ist der Arbeitgeber. Dies ist der Kerngehalt des AGB-Rechts, der in § 306 BGB seinen Ausdruck für die Rechtsfolgeseite findet. Hiervon macht auch § 3 Satz 1 MiLoG keine Ausnahme. Der Mindestlohn ist danach unverzichtbar. Ein Verstoß gegen dieses gesetzliche Gebot führt zur Unwirksamkeit der entsprechenden Vereinbarung.

Spannend bleibt hiernach aber noch die Frage, ob Ausschlussklauseln genauso zu behandeln sind, die vor dem 1.1.2015 vereinbart wurden. Hierzu hat das BAG keine Aussage getroffen. Würden die o.g. Grundsätze auch für diese Altfälle in der gleichen Form angewendet werden, wären nahezu alle alten Ausschlussfristen damit unwirksam.

Die Anwendungspraxis sieht sich daher zwei unterschiedlich großen Problemfeldern ausgesetzt. Fest steht: Seit 1.1.2015 müssen bei der Formulierung von Ausschlussklauseln Mindestlohnansprüche ausdrücklich ausgenommen werden. Andernfalls ist die Ausschlussklausel insgesamt unwirksam. Dieses Problem dürfte beherrschbar sein, da es bereits mit der Einführung des MiLoG erkannt wurde und in die Beratungspraxis entsprechenden Eingang gefunden hat.

In Bezug auf die Altfälle muss weiter mit erheblicher Unsicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit bestehender Ausschlussklauseln gelebt werden. Diese Unsicherheit dürfte sich für den klauselverwendenden Arbeitgeber mit dem vorliegenden Urteil noch einmal verstärkt haben. In Anknüpfung an die vergleichbar begründete Entscheidung zum Mindestlohn in der Pflege (BAG, Urt. v. 20.6.2018 – 5 AZR 262/17, AuA 2/19, S. 118; 5 AZR 377/17, AuA 10/18, S. 614) hat nun auch der 9. Senat des BAG im Ergebnis eine vollständige Unwirksamkeit der gesamten Ausschlussklausel bejaht.

Das ist im Ergebnis und in der Begründung zutreffend. Die Rechtsfolge der vollständigen Unwirksamkeit folgt zwingend aus dem Kerngehalt der §§ 305ff. BGB. Auch für die Altfälle kann danach nichts anderes gelten. Der AGB-Verwender trägt das Risiko, dass seine Formulierungen aufgrund einer später eintretenden Gesetzesänderung unwirksam werden, nachdem sie zunächst der Gesetzeslage entsprochen haben.

Praxistipp

Arbeitgeber sind gut beraten, vorhandene Ausschlussklauseln auf den aktuellen Stand zu bringen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Wie das in der Praxis tatsächlich gelingen kann, ist wie stets im Falle gewünschter Vertragsänderungen stark einzelfallabhängig.

RA und FA für Arbeitsrecht Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen, Direktor KompetenzCentrum für Wirtschaftsrecht, Hamburg

Prof. Dr. Tim Jesgarzewski

Prof. Dr. Tim Jesgarzewski
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, FOM Hochschule Bremen, Direktor KompetenzCentrum für Wirtschaftsrecht, Hamburg
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Mindestlohn: arbeitsvertragliche Ausschlussfrist in Verträgen seit 1.1.2015
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