Tariflicher Abfindungsanspruch bei Personalabbau

1. Ein abfindungspflichtiger Personalabbau i. S. v. § 4 Abs. 1 und 2 TV Soziale Absicherung kann auch vorliegen, wenn der Arbeitgeber gleichzeitig in anderen Bereichen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer nicht einsetzbar sind, neue Mitarbeiter einstellt.

2. Dem TV Soziale Absicherung ist nicht zu entnehmen, dass der Personalabbau die Zahlen des § 17 KSchG erreichen muss.

(Leitsätze der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 30. Oktober 2008 – 6 AZR 738/07

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Bild: schemev / stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Klägerin war bei der Beklagten in dem Forschungsprojekt "Neurohormonale Wirkungsmechanismen" als medizinisch-technische Assistentin beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts (BAT-O). Die Beklagte ist eine Gemeinschaft von Gelehrten und Trägerin ausgewählter Forschungsvorhaben, die sich überwiegend aus Drittmitteln finanzieren.

Der Drittmittelgeber hatte entschieden, das Forschungsprojekt, in dem die Klägerin tätig war, nicht mehr zu fördern. Daraufhin beschloss die Beklagte, das Projekt vollständig zu beenden. Sie löste die aus fünf Personen bestehende Forschergruppe auf und kündigte der Klägerin sowie drei weiteren Arbeitnehmern. Aufgrund der Vorgaben der Drittmittelgeber wandte sich die Beklagte danach weg von den Naturwissenschaften und hin zu einer verstärkten Förderung geisteswissenschaftlicher Projekte. Für diesen Bereich stellte sie auch neue Mitarbeiter ein.

Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin eine Abfindung nach dem Tarifvertrag zur sozialen Absicherung (TV Soziale Absicherung). Danach steht gekündigten Arbeitnehmern eine Abfindung zu, wenn die Kündigung wegen Personalabbaus erfolgte. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab.

Entscheidung

Die Revision der Klägerin vor dem BAG hatte Erfolg. Das Gericht sprach ihr die begehrte Abfindung zu. Nach § 4 Abs. 1 und 2 TV Soziale Absicherung steht Arbeitnehmern, die unter den Bundesangestelltentarifvertrag-Ost fallen, eine Abfindung i. H. v. einem Viertel ihrer letzten Monatsvergütung für jedes Beschäftigungsjahr zu, wenn sie ihren Arbeitsplatz aufgrund Personalabbaus verloren haben. Mit Verweis auf die bisherige Senatsrechtsprechung führten die Richter aus, dass ein Personalabbau vorliegt, wenn eine Mehrzahl von Mitarbeitern aus betrieblichen Gründen ausscheidet. Hier hatte die Beklagte vier betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen. Damit liegt jedenfalls eine Mehrzahl von Kündigungen vor.

Dem TV Soziale Absicherung ist nach Ansicht des BAG nicht zu entnehmen, dass der Personalabbau die Zahlen des § 17 KSchG erreichen muss. Eine solche Analogie widerspricht dem Zweck des Abfindungsanspruchs. Er soll die betroffenen Arbeitnehmer wirtschaftlich absichern. Dieses Bedürfnis besteht unabhängig davon, wie viel Personal der Arbeitgeber abbaut.

Nach Ansicht des BAG ist es für das Vorliegen eines Personalabbaus auch unerheblich, ob der Arbeitgeber in anderen Bereichen, in denen die betroffenen Mitarbeiter nicht einsetzbar sind, neue Beschäftigte einstellt, so dass sich der Personalbestand insgesamt nicht verringert. Es entspricht nicht dem Schutzgedanken des Abfindungsanspruchs, wenn er durch Neueinstellungen in Bereichen, in denen der Arbeitgeber die Gekündigten nach ihren Fähigkeiten nicht beschäftigen kann, ausgeschlossen würde. Ob der Anspruch nur besteht, wenn der Personalabbau im Rahmen einer Umstrukturierung erfolgt, hat das BAG offengelassen.

Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)

Konsequenzen

Nach dem Urteil ist es nun nicht mehr möglich, dem Abfindungsanspruch den Einwand entgegenzuhalten, die Belegschaft habe sich insgesamt nicht verringert. Das BAG bestimmte in seiner Entscheidung den Begriff des Personalabbaus nach dem Sinn und Zweck der Abfindungsregelung.

Praxistipp

Für Arbeitgeber besteht die Möglichkeit, Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die in Drittmittel geförderten Projekten beschäftigt sind, zu befristen. Die Drittmittelfinanzierung ist als sachlicher Befristungsgrund i. S. v. § 14 Teilzeit- und Befristungsgesetz anerkannt.

Steht Mitarbeitern ein Abfindungsanspruch nach dem TV Soziale Absicherung zu, müssen sie sich eventuell bestehende andere Abfindungsansprüche anrechnen lassen, § 4 Abs. 4 TV Soziale Absicherung.

RAin Nadine Hesser, Frankfurt

Redaktion (allg.)

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