Konsultationsverfahren bei Massenentlassungen

Art. 2 Abs. 4, Unterabs. 1 der RL 98/59/EG vom 20.7.1998; § 17 KSchG

Der EuGH hat den Begriff des „den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen(s)“ im Rahmen von Massenentlassungen näher definiert. Er umfasst jedes Unternehmen, welches aufgrund von Beteiligungen am Gesellschaftskapital oder anderer rechtlicher Verbindungen einen bestimmenden Einfluss auf die Kündigungsentscheidungen des Arbeitgeberunternehmens nehmen kann.

(Leitsätze der Bearbeiter)

EuGH, Urteile vom 7.8.2018 – C-61/17, C-62/17, C-72/17

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Bild: Erwin-Wodicka / stock.adobe.com
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Problempunkt

Das LAG Berlin-Brandenburg wandte sich im Rahmen dreier Berufungsverfahren an den EuGH um zu klären, wie der Begriff des „den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen(s)“ im Rahmen von § 17 KSchG auszulegen ist.

§ 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG sieht die Verpflichtung des Arbeitgebers vor, den Betriebsrat vor einer beabsichtigten Massenentlassung rechtzeitig zu konsultieren und ihm schriftlich alle erforderlichen Informationen zu erteilen. Die Unterrichtung soll u. a. die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie die Zahl und die Berufsgruppen der i. d. R. beschäftigten Arbeitnehmer benennen.

Um zu verhindern, dass Arbeitgeber sich der Unterrichtungspflicht entziehen unter Verweis darauf, dass die Entscheidung auf Ebene eines beherrschenden Unternehmens getroffen wurde, sehen Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1 der RL 98/59/EG ebenso wie § 17 Abs. 3a KSchG vor, dass die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten für Massenentlassungen auch dann gelten, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde.

Der Begriff des „den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen(s)“ wird auf nationaler Ebene jedoch unterschiedlich ausgelegt. Bei enger Auslegung fallen unter den Begriff lediglich Unternehmen, die mittels Beteiligungen und Stimmrechten einen beherrschenden Einfluss ausüben. Bei einer weiten Auslegung könnten auch Arbeitgeber erfasst sein, die nur rechtlich oder tatsächlich beherrscht werden.

Entscheidung

Der EuGH hat festgestellt, dass der Begriff der Beherrschung nach der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Richtlinie dahingehend auszulegen ist, dass die Einflussnahme durch die Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe oder durch die Stimmenmehrheit in der Gesellschafterversammlung oder den Entscheidungsorganen des Arbeitgebers vermittelt werden muss. Darüber hinaus genügt auch ein bestimmender Einfluss auf die Entscheidungsorgane in Fällen, in denen ein Anteilseigner zwar nicht die Mehrheit der Anteile hält, jedoch faktisch aufgrund einer breiten Streuung oder einer geringeren Beteiligungsquote der Gesellschafter die Abstimmungsergebnisse bestimmen kann.

Den Kern der Entscheidung bildet die Feststellung, dass rein tatsächliche Kriterien wie gemeinsame Vermögensinteressen des Arbeitgebers und des anderen Unternehmens nicht ausreichen, um die Informations-, Konsultations- und Meldepflichten auf das andere Unternehmen zu erstrecken. Maßgeblich für diese Feststellung ist das Gebot der Rechtssicherheit. Die nationalen Gerichte wären zu umfangreichen Recherchen mit unsicherem Ausgang gezwungen, um den Grad der gemeinsamen Interessen zu bestimmen. Nicht ausreichend sind ferner vertragliche Beziehungen wie im Verhältnis zu einem Großkunden, solange hierdurch kein rechtlicher Einfluss auf die Entscheidungen des Arbeitgebers genommen werden kann.

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Konsequenzen

Der Entscheidung ist uneingeschränkt zuzustimmen. Das Konsultationsverfahren ist ein juristisches Minenfeld, welches unzählige Fallen und Risiken birgt. Neben der Rechtsunsicherheit hätte die Entscheidung dabei noch auf einen anderen Punkt gestützt werden können. Die Erfüllung der Konsultationspflicht muss dem Arbeitgeber möglich sein. Allerdings steht ihm als beherrschtem Unternehmen kein Auskunftsanspruch gegen das beherrschende Unternehmen zu.

In Fällen, in denen das beherrschende Unternehmen Anteilseigener ist, werden die finanziellen Risiken, die mit einem fehlerhaften Konsultationsverfahren einhergehen, die Bereitschaft zur Herausgabe der Informationen sicherstellen. Wenn der Einfluss indes lediglich durch gleichgerichtete Vermögensinteressen oder eine wirtschaftliche Machtposition vermittelt wird, ist die Annahme, dass die notwendigen Informationen aus Eigeninteresse bereitgestellt werden, nicht gerechtfertigt und damit wäre auch eine entsprechende Auskunftsverpflichtung unzulässig.

Trotz der Eingrenzung der Konsultationspflicht auf Sachverhalte, in denen ein bestimmender Einfluss auf die Gesellschafterversammlung oder das Entscheidungsgremium ausgeübt wird, bleibt die Erfüllung der Konsultationspflicht im Konzernverbund eine Herausforderung. Die Erfahrung der Verfasser zeigt, dass auf Ebene der Muttergesellschaft wenig bis gar kein Verständnis dafür besteht, der Arbeitnehmervertretung der Tochtergesellschaft darlegen zu müssen, welche Überlegungen angestellt wurden und deren Auskunftsverlangen zu befriedigen. Erschwert wird dies dadurch, dass Planungen häufig auf globaler Ebene erfolgen und nicht auf den Arbeitgeber begrenzt werden. Die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertretung entsteht nach Art. 2 Abs. 1 und 4 der RL 98/59/EG jedoch bereits, wenn auf Konzernebene strategische Entscheidungen getroffen werden, die zu Massenentlassungen des Arbeitgebers führen können (EuGH, Urt. v. 10.9.2009 – C-44/08 Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK ry u. a./Fujitsu Siemens Computers Oy).

Praxistipp

Zu warnen ist auch davor, das Konsultationsverfahren zur Farce verkommen zu lassen. Nicht nur der Respekt gegenüber der Arbeitnehmervertretung, sondern auch der Zweck des Verfahrens erfordern es, ergebnisoffen zu verhandeln und sich mit Vorschlägen der Arbeitnehmerseite ernsthaft zu beschäftigen. Neben dem Risiko massenhaft unwirksamer Kündigungen wäre es nicht das erste Mal, dass sich die Planungen auf Unternehmensseite als unvollständig oder gar fehlerhaft erweisen und das Konsultationsverfahren seinem Zweck gerecht wird, Kündigungen zu vermeiden.

RAin Lara Kalina, Simmons & Simmons LLP, Düsseldorf; RA Dr. Steffen Nguyen-Quang, Simmons & Simmons LLP, Düsseldorf

Lara Kalina

Rechtsanwältin, Simmons & Simmons LLP Düsselorf
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· Artikel im Heft ·

Konsultationsverfahren bei Massenentlassungen
Seite 245 bis 246
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