Literaturtipp: Komplementäre Führung

Von Prof. Dr. Boris Kaehler, 2. Auflage, Springer Gabler, Wiesbaden 2014/2017, 490 Seiten, Preis: 49,99 Euro (eBook: 39.99 Euro)

Drei Dinge auf einmal – das ist zweifellos ambitioniert. Kaehler beweist, dass dies nicht nur in der Welt der Süßwarenwerbung gelingen kann.

Sein 500-Seiten-Buch ist erstens ein Nachschlagewerk in Sachen Führung. Alle wesentlichen Begriffe, Aspekte und Konzepte der Personal- und Mitarbeiterführung werden behandelt und sind mit dem Stichwortverzeichnis leicht zu finden. Sie werden dabei keineswegs neutral im Stil eines konventionellen Lehrbuchs behandelt, sondern immer kritisch, handlungsorientiert, auswertend im Hinblick auf tatsächlichen Erkenntnisgewinn und praktische Brauchbarkeit. Gerade dieser Ansatz hilft dem Leser, ein vertieftes eigenes Verständnis zu entwickeln. Die unerbittliche Genauigkeit und bissige Schärfe, mit der im Buch viele etablierte Führungskonzepte und -praktiken analysiert werden, macht dabei echte Lesefreude (ohne dass man sich genötigt fühlte, alle Einschätzungen selbst zu übernehmen).
Zweitens entwirft der Autor eine eigene, neue Führungstheorie. Wer Klassiker wie die „situative Führung“ und die „transformationale Führung“ kennt oder sich mit modernen Konzepten wie der „agilen Führung“ auseinandergesetzt hat, wird vermutlich zustimmen, dass es sich bei der „komplementären Führung“ um eine besonders elaborierte und umsetzungsorientierte Theorie handelt, die plausibler und realistischer erscheint als die vorgenannten. Ob sie sich in Wissenschaft und Lehre neben den tradierten Theorien etablieren kann, ist hier nicht zu entscheiden und wird sich zeigen.
Drittens – was für betriebliche Praktiker zweifellos am wichtigsten ist – bietet das Buch eine Strukturierungshilfe für betriebliche Führungsmodelle. Der Autor definiert diese in Abschnitt 4.1.2.4 als „grundsätzliche Festlegungen in Bezug auf Führung in einer konkreten Organisation im Sinne einer Verfassung der Personalarbeit“ und bietet mit seiner Theorie nicht nur eine Strukturierungshilfe für betriebliche Führungsmodelle, sondern liefert den Projektablauf zur Ableitung unternehmensspezifischer Führungsmodelle in Kapitel 7 gleich mit.

Teil I des Buches trägt den Titel „Probleme, Ansatzpunkte und Grundlagen“. Er enthält einen äußerst kritischen Blick auf den Stand der Dinge in Sachen Führung in Theorie und Praxis sowie einen informativen Abriss führungstheoretischer Grundlagen und konzeptioneller Vorüberlegungen. Umfassend werden sodann fast alle etablierten Führungstheorien daraufhin untersucht, an welche ihrer Elemente sich aus Sicht des Autors anknüpfen lässt.

In Teil II des Buches wird Kaehlers Theorie der Komplementären Führung dargestellt. Das Kernmodell besteht aus drei Elementen. Dies sind die komplementären Führungsfunktionen (Ordnungs- und Unterstützungsfunktion, verstanden als Dienstleistung mit Doppelcharakter), die komplementären Führungsaufgaben (24 Aufgabenstellungen, in denen sich jeweils beide Funktionen verwirklichen) und die komplementären Führungsakteure (Führungskraft, Mitarbeiter, obere Führungskraft, Personalbetreuer). Die Dynamik, mit der die Akteure zusammenwirken, beschreibt der Autor in Abschnitt 4.4.4 als „kompensatorisch“: Idealerweise sollte ein Beschäftigter alle Führungsaufgaben selbst wahrnehmen, also selbst wissen, was er zu tun hat, sich selbst motivieren, Konflikte im Team selbst lösen usw. Nur dann, wenn diese Selbststeuerung versagt, greift die Führungskraft ein, und da auch das de facto nicht immer der Fall ist, wirken die obere Führungskraft und der Personalbetreuer als Co-Führende, die (ebenfalls nur bei Bedarf) nach dem gleichen Prinzip eingreifen.

Da Kaehler Mitarbeiterführung und Personalmanagement als einen einzigen, von mehreren Akteuren gemeinsam besetzten Wirkungskreis versteht, fallen die Führungsaufgaben höchst umfangreich aus. Der Katalog umfasst 24 Aufgaben und füllt ein ganzes Kapitel von über 100 Seiten. Zur Umsetzung des Kernmodells entwirft er vier sog. Umsetzungselemente, nämlich den Führungsaufbau (die Gestaltung der beteiligten Organisationseinheiten), die Führungsroutinen (Aktivitäten), die Führungsinstrumente (formalisierte Werkzeuge) und die Führungsressourcen (Arbeitszeit, Kompetenz, Informationen, Feedback). Den systematischen Zusammenhang fasst er in Abschnitt 6.1.1.1 so zusammen: „Führende erledigen Führungsaufgaben (z. B. Leistungsfeedback) mittels Führungsroutinen (z. B. Gesprächen), wenden dabei Führungsinstrumente an (z. B. Arbeitszeitregelungen), benötigen dafür Führungsressourcen (z. B. Geschäftsinformationen) und tun dies alles auf Basis des Führungsaufbaus (z. B. des Zuschnitts ihrer Stelle).“ Das ganze Theoriemodell – so verständlich es beschrieben wird – fällt damit sehr komplex aus. Einerseits stellt dies für den Leser eine Herausforderung dar; leichte Kost sieht anders aus. Auf der anderen Seite ist das Beschriebene sicher vielen Praktikern vertraut, so dass man sich fragt, warum diese Führungsaspekte und -prozesse in der sonstigen Literatur nicht schon ebenso detailreich beschrieben sind. Eigentlich handelt es sich um Standardwissen, das allen an betrieblicher Führung Beteiligten überhaupt erst ermöglicht, ihre eigene Rolle im Führungsprozess zu bestimmen.

Teil III beschreibt Aspekte der Implementierung in der Praxis. Dabei geht es zunächst um die Entwicklung betrieblicher Führungsmodelle auf Basis der komplementären Führungstheorie. Anschließend wird in zwei separaten Kapiteln der Fokus erst auf die Perspektive der Führungskräfte und dann auf die Rolle der Personalfunktion gerichtet. Dies geht mit einigen Redundanzen einher, wie sie auch andere Kapitel in Teilen aufweisen. Da aber kaum jemand das ganze Buch in einem Stück von vorn bis hinten lesen wird, muss dies kein Nachteil sein.

Fazit: Dieses Buch ist allemal empfehlenswert und zwar tatsächlich für drei Dinge auf einmal: als Nachschlagewerk, als Theoriemodell und als Arbeitshilfe für betriebliche Führungsmodelle.

RAin und Mediatorin Dr. Daniela Senne, Hofheim

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