„Die Bundesregierung meint, es gebe gar keinen großen Umsetzungsbedarf“

Wortwechsel

Dies ist der erste Teil der Rubrik Wortwechsel zum Thema Vereinbarkeitsrichtlinie und Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung. Die Fortsetzung der Diskussion lesen Sie in AuA 10/22.

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 Bild: Nuthawut/stock.adobe.com
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Die Vereinbarkeitsrichtlinie (EU) 2019/1158 ersetzt die sog. Elternzeitrichtlinie 2010/18/EU und somit die Rahmenvereinbarung über Elternurlaub. Halten Sie diese Überarbeitung für notwendig?

Seeland: Absolut, denn die geschlechtsspezifischen Unterschiede von Sorgeleistenden bei der Beschäftigung, deren Diskriminierung und fehlende Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt sind weiterhin gravierend. Der Gender Care Gap lag 2019 in Deutschland nach Angaben aus dem Zweiten Gleichstellungsbericht bei 52,4 %. Unionsweit gehen laut der EU-Kommission 68 % der sorgeleistenden Frauen einer bezahlten Arbeit nach, gegenüber 81 % der sorgeleistenden Männer. Dies geht vor allem zulasten der Erwerbstätigkeit von Frauen mit weitreichenden Konsequenzen,z. B. für ihre Altersabsicherung. Es ist ein strukturelles Problem. Maßnahmen auf EU-Ebene, wie die Vereinbarkeitsrichtlinie, der Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte oder die EU-Pflegestrategie, sind deshalb wichtig. Aufgabe und Kompetenzen der EU sind gerade auch die Herstellung von Chancengleichheit und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Die Vereinbarkeitsrichtline etabliert dabei neue Ansätze.

Care-Arbeit umfasst nicht nur die Sorge um Kinder, sondern ebenso um pflegebedürftige Menschen. Insbesondere in Anbetracht des demografischen Wandels ist es bedeutend, dies in den Blick zu nehmen. Die Regelungen der Richtlinie knüpfen nicht an das Geschlecht, um das es nur mittelbar geht, sondern direkt an die Ausübung von Sorgearbeit an. Dies ist entscheidend und wichtig, um durch den Rechtsrahmen Stereotype nicht weiter zu verfestigen, die Rechtsdurchsetzung für Beschäftigte zu erleichtern und eine Änderung der Unternehmenskultur anzustoßen. Um die bestehenden Gender Gaps zu schließen, ist es weiterhin zu begrüßen, dass nun aktiv das bisher in der Sorgearbeit unterrepräsentierte Elternteil gefördert wird und der Arbeitgeber z. B. eine Freistellung des zweiten Elternteils gewähren muss nach Art. 4 der Richtlinie.

Lelley: Die Vereinbarkeitsrichtlinie (EU) 2019/1158 wird ja auch „Work-Life-Balance“-Richtlinie genannt. Und das (immer noch) nur im Entwurf dazu vorliegende deutsche Umsetzungsgesetz heißt Vereinbarkeitsrichtlinienumsetzungsgesetz (!). Der Name scheint Programm zu sein. Zu recht wurde in der Fachwelt darauf hingewiesen: Hier bekommen wir sehr wahrscheinlich mehr Bürokratie statt mehr Balance. Dabei ist eine wichtige Entwicklung für die EU insbesondere die Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Und daher auf jeden Fall zu begrüßen und zu fördern. Nach der Ansicht des Bundesfamilienministeriums sorgt die Richtlinie für eine gerechtere Aufteilung von Betreuungs- und Pflegeaufgaben zwischen Frauen und Männern und für die Erwerbsbeteiligung insbesondere von Frauen.

Richtig ist aber ja auch: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in Deutschland Anspruch auf bezahlte Auszeit nach § 1 des Bundesurlaubsgesetzes, egal ob in Teilzeit oder Vollzeit, ob befristet oder unbefristet tätig. Ein Recht auf bezahlte Elternzeit wurde in § 1 des BEEG verankert. Und in § 1 des Arbeitszeitgesetzes ist auch ausdrücklich eine flexible Arbeitszeitregelung Ziel des Arbeitszeitrechts. Deutschland bietet zudem bereits mit Mutterschutz sowie weiteren Ansprüchen wie dem Anspruch auf Pflegezeit oder Familienpflegezeit viele, viele Instrumente zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Daher sehe ich bei uns keinen sehr großen und ausgeprägten Nachholbedarf. Die Richtlinie der EU 2019/1158 trifft auf ein hohes nationales Schutzniveau in Deutschland. Die Umsetzungsfrist lief übrigens im August 2022 ab.

Die Richtlinie wurde als „Meilenstein“ von der damaligen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey bezeichnet. Wie beurteilen Sie den Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Umsetzung?

Seeland: Die Vereinbarkeitsrichtlinie bot dem deutschen Gesetzgeber große Chancen, für einen rechtlichen Rahmen zu sorgen, der die Umverteilung der Care-Arbeit und die Gleichbehandlung von Sorgeleistenden fördert. Meiner Meinung nach wurde diese Chance klar verpasst und es bestehen Zweifel an der vollständigen Umsetzung der Richtlinie, bspw. in Bezug auf den Kündigungsschutz. Der Neunte Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der UN zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung verweist selbst darauf, dass ein Bündel an Maßnahmen notwendig ist, um die Erwerbsbeteiligungslücke von Müttern zu schließen und Müttern und Vätern den Eintritt und den Verbleib in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Der Gesetzesentwurf lässt hingegen davon nichts erkennen, ebenso wenig den Willen des Gesetzgebers, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zielgerichtet zu verbessern.

Die Reformen sind kleinschrittig und beschränken sich auf vereinzelte Änderungen im BEEG vor allem in Bezug auf Begründungspflichten bei der Ablehnung eines Antrags auf flexible Arbeitsregelungen sowie zur Zuständigkeit der Antidiskriminierungsstelle nach dem AGG. Damit werden maximal oberflächliche „Schönheitsreparaturen“ vorgenommen. Um diese strukturellen Probleme aufzugreifen, bedarf es echter Reformen und Arbeitgeber müssen umfassend verpflichtet werden. Am zweckdienlichsten können meiner Meinung nach noch die Änderungen im Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz betrachtet werden, wonach Beschäftigte nun auch in Kleinbetrieben ein Antragsrecht auf eine Vereinbarung über (Familien-)Pflegezeit haben.

Vor dem Hintergrund, dass Frauen zu Großteilen in Kleinunternehmen beschäftigt sind, wäre darüber hinaus ein Rechtsanspruch auf Freistellung unabhängig von der Betriebsgröße zu fordern. Die Mehrbelastung der Arbeitgeber darf kein Argument sein, um eine tatsächliche Gleichstellung aller Beschäftigten zu ermöglichen und den Zielen beider Gesetze zu entsprechen. Dies wäre nach Art. 3 Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich geboten.

Lelley:Die Bundesregierung meint – wenn ich das richtig sehe – es gebe gar keinen großen Umsetzungsbedarf. Es ist zwar immer viel die Rede davon, die tradierten Rollen- und Familienbilder „aufzubrechen“ und eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit zu ermöglichen. Aber schon der Referentenentwurf kommt ja zu spät. Ich weiß nicht, ob es da in der Kritik wirklich so sehr auf den Kündigungsschutz und Ähnliches ankommen sollte. Immer wieder ist zu hören, der Referentenentwurf beschränke sich darauf, flexible Arbeitsregelungen bzgl. der Verringerung der Arbeitszeit während der Elternzeit oder Freistellungen nach dem Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz geringfügig zu verbessern.

Ich befürchte, die Personalpraxis wird sich zunehmend mit mehr oder fast immer weniger gehaltvollen Begründungserfordernissen herumschlagen müssen. So ist z. B. vorgesehen, dass in der Elternzeit ein Antrag auf Verringerung der Arbeitszeit nur mit Begründung abgelehnt werden darf – jetzt unabhängig von der Betriebsgröße. Unternehmen müssen innerhalb von vier Wochen nach Zugang des Antrags antworten. Das kann eine weitere Front im unternehmensinternen Papierkrieg eröffnen.

Darüber hinaus ändert sich nicht so viel im Vergleich zum bestehenden Recht. Allerdings sendet die Einbeziehung der Kleinbetriebe, die bisher von den Familienzeit- und Pflegezeitregelungen ausgenommen sind, sicher kein durchgängig positives Signal. Hier kann man schon an eine Überlastung denken.

Dr. Jan Tibor Lelley

Dr. Jan Tibor Lelley
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner, Buse Heberer Fromm, Essen, Frankfurt am Main

Antonia Seeland

Antonia Seeland
Wissenschaftliche Referentin, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, HSI der Hans-Böckler-Stiftung
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· Artikel im Heft ·

„Die Bundesregierung meint, es gebe gar keinen großen Umsetzungsbedarf“
Seite 40 bis 41
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