…so lief es Mitte März über die Nachrichtenticker vieler Zeitungen. Bahn und GDL verhandeln wieder, die Gespräche seien konstruktiv, zielführend und über viele Punkte habe man bereits Einigkeit erzielt. Damit sieht derzeit alles danach aus, als ob der Bahnstreik ohne weitere Streikmaßnahmen nunmehr gelöst wird. Was zu einem Aufatmen bei unzähligen Bahnkunden führen dürfte, sollte aber nicht zu einem Hinwegsehen darüber führen, dass das Streikrecht in den letzten Wochen kontrovers diskutiert worden ist.
Bedarf es also einer „Reform“ des Streikrechts bzw. vielmehr einer gesetzlichen Regelung überhaupt? Zunächst: Dass gestreikt werden darf, steht dabei außer Frage. Hierbei handelt es sich um ein wichtiges verfassungsrechtlich abgesichertes Prinzip, sodass auch die Koalitionsbetätigungsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG ein elementares und für eine demokratische Gesellschaft bedeutendes Grundrecht darstellt. Daran rüttelt auch niemand. Allerdings sind Grundrechte – sieht man von der Menschenwürde ab – eben nicht unantastbar und obliegt deren Ausübung einer Abwägung mit den widerstreitenden Grundrechtspositionen anderer. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Streikmaßnahmen im Bereich der Daseinsvorsorge bzw. kritischer Infrastruktur handelt, worunter man in einer mobilen und vernetzten Gesellschaft auch den Personenfern- und öffentlichen Personennahverkehr zu zählen hat. Kommt der Pendler nicht zur Arbeit, werden Güter auf der Schiene nicht bewegt und warten Betriebe auf Rohstoffe, betrifft ein Arbeitskampf eben nicht nur die im Konflikt miteinander stehenden Tarifvertragsparteien.
Rechtliche Konfliktlösungsmechanismen gibt es bislang wenig: Zwar kann der bestreikte Arbeitgeber die Arbeitsgerichte erster und zweiter Instanz anrufen und Arbeitskampfmaßnahmen auf deren Verhältnismäßigkeit prüfen lassen. Im Einzelfall mag dies dazu führen, dass Untersagungsverfügungen erfolgreich sind, wie eine Entscheidung des LAG Hamburg (Urt. v. 26.3.2023 – 1Ta1/23) anlässlich eines angekündigten Streiks im Hamburger Elbtunnel ohne Einrichtung von Notdienstmaßnahmen beweist. Gänzlich schutzlos gestellt sind Arbeitgeber also nicht. Gleichwohl: Der strenge Prüfungsmaßstab einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit ist eng gesetzt, vieles ist Kasuistik. Nun mag es bequem sein, eine so komplexe Materie den Arbeitsgerichten zu überlassen. Diese werden es schon schaffen, im Einzelfall angemessene Lösungen herauszuarbeiten. Ein Ersatzgesetzgeber sind die Arbeitsgerichte aber nicht. Wesentliche normative Entscheidungen hat der Gesetzgeber zu treffen. Denn – so wie das LAG Hessen in seiner Pressemitteilung vom 12.3.2024 (Nr. 4/24 im Verfahren des erfolglosen Eilantrags der Bahn, Az. 10GLa229/24) zutreffend ausführt – sind Gerichte „grundsätzlich nicht befugt, neue, das Arbeitskampfrecht […] einschränkende Regelungen zu erlassen, wenn und soweit der Gesetzgeber sich für ein Modell des freien Spiels der Kräfte entschieden habe“.
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Der Ball liegt also im Spielfeld des Gesetzgebers: Die jüngsten Streiks haben gezeigt, an welchen Stellschrauben justiert werden könnte, um das wichtige Streikrecht einerseits, die berechtigten Interessen Dritter andererseits in schonenden Ausgleich zu bringen. Ansonsten drohen – nicht zuletzt als späte Folge der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG – auch bei künftigen Tarifkonflikten disproportionale Arbeitskämpfe. Abhilfe könnte die gesetzliche Einführung von Ankündigungsfristen oder die Vorschaltung eines obligatorischen Schlichtungsverfahrens mit gleichwohl unverbindlichem Ergebnis für beide Seiten schaffen. Dies wären denkbare und auch verfassungsrechtlich zulässige Maßnahmen.
Gleich also, wie der vorliegende Tarifstreit entschieden werden wird, der Appell an die Politik sollte nicht ungehört verhallen: Ein gesetzlicher Rahmen für Streiks in der kritischen Infrastruktur ist notwendig.
Prof. Dr. Michael Fuhlrott
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