Einst saß ich bei einer Veranstaltung mit sechs Frauen an einem Tisch, darunter eine promovierte Abteilungsleiterin aus der Automotive-Industrie, eine Partnerin einer juristischen Großkanzlei, eine IT-Spezialistin in Führungsposition. Allesamt top ausgebildete Führungs- und Fachkräfte mit Erfahrung und Expertise. Jede dieser Frauen repräsentierte auf unterschiedliche Weise das, was nicht nur in Zeiten des Fachkräftemangels als ebenso knappe wie begehrte Ressource heiß umworben sein sollte. Theoretisch jedenfalls.
Denn keine von ihnen war noch in einem regulären Anstellungsverhältnis. Sie waren nach Jahren der Anpassung aus dem Job gegangen. Raus aus dem Unternehmen, raus aus dem System. Ihnen allen war die Erschöpfung und die Frustration anzumerken. Diese Frauen hatten im bestehenden System versucht, erfolgreich zu sein. Bis es nicht mehr ging.
Doch nach wie vor rufen wir den Frauen zu, sie sollten sich endlich trauen, sich anstrengen, Verantwortung und Führung übernehmen, sich anpassen, Organisationen von innen verändern etc. Haben wir es immer noch nicht verstanden?
Ganz offensichtlich nicht. Denn wir nennen unsere Angebote an Führungspositionen, von denen wir längst wissen könnten, dass sie nur auf ganz bestimmte Menschen zugeschnitten sind, allen Ernstes „Chancen“. Verbunden damit sind Appelle zum Durchhalten oder Durchbeißen an die, die „anders“ sind als die Mehrheit der Menschen in den Spitzen unserer Unternehmen. Und solche Durchhalteparolen nennen wir „Empowerment“. Wie zynisch wir sind.
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Denjenigen an der Spitze der Hierarchien kann das nur recht sein. Sie müssen sich nicht verändern. Vielmehr bekommen sie auch noch das ebenso praktische wie eindimensionale Narrativ serviert, nach dem sie selbst ja offen seien für mehr Frauen in Macht- und Führungspositionen. Wenn diese solche Angebote jedoch ablehnten, dann liege dies eben an deren mangelnder Ambition. Das ist Realitätsverweigerung.
Denn das genaue Gegenteil ist richtig: Frauen lehnen Führungspositionen vor allem deshalb häufig ab, weil sie die Auswirkungen der für sie nachteiligen systemischen Rahmenbedingungen ganz genau kennen. Sie haben den konstanten Gegenwind viele Jahre erlebt. Wenn eine Frau eine Führungsposition angeboten bekommt, dann sind ihr mindestens zwei Dinge präsent. Erstens: ihr Mental Load und deren Hauptursache. Unter Mental Load versteht man die Überlastung, die durch eine Vielzahl an Aufgaben (sog. „Microtasks“) rund um Sorgearbeit entsteht; das also, was insbesondere Mütter nachts wachliegen lässt, wenn sich wieder einmal die unendliche To-do-Liste im Kopf dreht. Nicht etwa, weil Mütter Care-Arbeit leisten sollten, sondern weil sie es heute noch de facto überwiegend tun.
Der Gender-Care-Gap beträgt in Haushalten mit Kindern durchschnittlich 83,3 %. Das bedeutet, dass jede Mutter in Deutschland im Durchschnitt zweieinhalb Stunden mehr Care-Arbeit pro Tag leistet als jeder durchschnittliche Mann. Selbst wenn sich eine Frau einen Führungsjob tatsächlich zumuten möchte, wartet immer noch das zweite Hindernis in Gestalt doppelter Standards: Sie muss in ihrem dann neuen Verantwortungsbereich i.d.R. besser performen als jedes ihrer männlichen Pendants. Wundert es uns also, wenn Frauen häufiger abwehrend reagieren, wenn wir ihnen die immer gleichen Positionen anbieten, die bis heute ganz selbstverständlich überwiegend von weißen, heterosexuellen Cis-Männern besetzt sind? Wenn wir wirklich wollen, dass Vielfalt in alle Bereiche vordringt, dann müssen wir die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen – und schaffen wollen.
Und: Wir brauchen mehr Männer, die das System und ihre Rollen darin kritisch hinterfragen. Je mehr Männer abwinken, wenn es um Dauerverfügbarkeit als Führungsvoraussetzung geht, desto größer ist unsere Chance, gemeinsam ein System zu gestalten, das uns allen gerecht wird.
Robert Franken

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