Anfechtung eines Prozessvergleichs und Rücktritt

§§ 123, 162, 166, 275, 313, 326 BGB

Ein Prozessvergleich kann nur mit Erfolg nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB angefochten werden, wenn die arglistige Täuschung durch den Anfechtungsgegner für die Annahmeerklärung des Anfechtenden kausal geworden ist.

Das ist nicht der Fall, wenn der Anfechtende im Zeitpunkt der vermeintlichen Täuschung dem Vergleich bereits unwiderruflich zugestimmt hatte.

(Amtlicher Leitsatz)

BAG, Urteil vom 20.6.2024 – 2 AZR 156/23

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● Problempunkt

Im Anschluss an eine Kündigung der Klägerin schloss diese im gerichtlichen Gütetermin vor dem Arbeitsgericht einen gerichtlichen Vergleich mit Abfindungsregelung i. H. v. 9.500 Euro brutto für den Verlust des Arbeitsplatzes. In diesem Termin war nur die Prozessbevollmächtigte des Arbeitgebers anwesend. Dem Arbeitgeber war eine Widerrufsmöglichkeit mit Frist von einer Woche vorbehalten worden. Einen Monat nach Abschluss des Vergleichs beantragte der Arbeitgeber die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Als die Klägerin hiervon erfuhr, focht sie den Vergleich wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) an und erklärte zugleich unter Bezugnahme auf § 313 BGB den Rücktritt vom Vergleich.

Die Vorinstanzen nahmen an, der Rechtsstreit sei durch den Vergleich erledigt (Thüringer LAG, Urt. v. 8.2.2023 – 4 Sa 114/21). Mit der Revision verfolgte die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

▲ Entscheidung

Der Vergleich hatte Bestand. Eine Anfechtung des Vergleiches schied aus. Denn die den Vergleich in der Güteverhandlung abschließende Prozessbevollmächtigte der Beklagten kannte deren wirtschaftliche Lage bei Vergleichsschluss nicht. Es reichte für eine Wissenszurechnung nach § 166 Abs. 2 BGB nicht aus, dass die Beklagte selbst bei Vergleichsschluss ggf. wusste, dass sie die Abfindung aufgrund der bevorstehenden Insolvenz nicht würde zahlen können. Da die Klägerin den Vergleich in der Güteverhandlung ohne Widerrufsmöglichkeit abgeschlossen hatte, konnte auch der Umstand, dass die Beklagte selbst im Anschluss den Vergleich nicht mehr widerrief, nicht mehr kausal für eine Täuschung der Klägerin geworden sein.

Das BAG sah es auch nicht als treuwidrig an, dass der Arbeitgeber die Widerrufsfrist ungenutzt verstreichen ließ. Ein Rücktritt vom Vergleich nach § 323 BGB scheiterte daran, dass die Beklagte die Abfindung nach Antrag der Insolvenz nicht mehr zahlen konnte, ohne dass dies nach Insolvenzrecht anfechtbar war.

Schließlich war die Pflicht der Arbeitgeberin zur Zahlung der Abfindung auch nicht nach den §§ 326, 275 BGB unmöglich geworden, da die Klägerin mit dem Vergleichsschluss auch das Risiko einer Insolvenz der Arbeitgeberin tragen musste.

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›› Konsequenzen

Will sich eine Partei von einem gerichtlichen Vergleich lösen, kommen dafür insbesondere

  • die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung und
  • der Rücktritt vom Vergleich

in Betracht. Der Irrtum über etwaige Nachteile des Vergleichs ist dabei allerdings bloßer Motiv- bzw. Rechtsfolgenirrtum und berechtigt nicht zur Irrtumsanfechtung nach § 119 BGB (BAG, Urt. 7.11.1996 – 2 AZR 811/95). Ein Rücktrittsrecht kann sich nur aus allgemeinen Regeln ergeben (§§ 320 ff. BGB), etwa dann, wenn eine Partei eine fällige Leistung aus dem Vergleich nicht erbringt und die andere Partei erfolglos eine Frist zur Leistung setzt. Eine vergleichsweise Einigung „im Wege gegenseitigen Nachgebens“ nach § 779 BGB ist aber nicht automatisch schon ein rücktrittsfähiger gegenseitiger Vertrag (BAG, Urt. 27.8.2014 – 4 AZR 999/12).

Wie die vorliegende Entscheidung noch einmal betont, begründet insbesondere die Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Arbeitgebers kein Rücktrittsrecht nach § 323 BGB. Voraussetzung für das Rücktrittsrecht ist nämlich die Durchsetzbarkeit der ursprünglichen Forderung; mit der Insolvenz ist die Abfindungsforderung aber nicht mehr durchsetzbar, es kann nur noch die Feststellung zur Insolvenztabelle verlangt werden. Es liegt hier auch kein Rücktrittsrecht nach § 326 Abs. 5 BGB vor. Der Abfindungsanspruch ist zwar nicht mehr durchsetzbar, aber nicht unmöglich i. S. d. § 275 BGB (vgl. BAG, Urt. v. 11.7.2012 – 2 AZR 42/11).

Praxistipp

Gerichtliche Vergleiche sind in der Praxis in aller Regel bestandsfest. Irrt sich die Arbeitnehmerin über die Folgen des Vergleichs, muss sie darlegen, dass es gerade die Täuschung war, die sie zum Abschluss des Vergleiches bewegt hatte. In der Regel wird es bereits an der Ursächlichkeit der Täuschung für den Vergleichsschluss fehlen. Wird der Arbeitgeber nach Abschluss des Vergleiches insolvent, stellt dies auch keinen Grund für einen Rücktritt vom Vergleich dar.

Dr. Ingo Plesterninks

Dr. Ingo Plesterninks
VP HR Mauser International Packaging Solutions, Brühl, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bonn
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Anfechtung eines Prozessvergleichs und Rücktritt
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