Gewerkschaften dürfen Sozialtarifverträge erstreiken

1. Die Gegenstände eines Sozialplans können auch Inhalt eines Tarifvertrags sein. Die §§ 111 ff. BetrVG entfalten im Hinblick auf sog. Sozialtarifverträge keine Sperrwirkung.

2. Die Gewerkschaft kann ihre Forderungen mittels Arbeitskampfmaßnahmen durchsetzen. Dabei kann sie auch gezielt einzelne verbandsangehörige Arbeitgeber bestreiken, um einen ausschließlich auf den bestreikten Betrieb bezogenen Tarifvertrag abzuschließen.

3. Auch weit überzogene Tarifforderungen führen grundsätzlich nicht zur Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfes. Die Höhe einer Tarifforderung unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle.

4. Ein Verstoß gegen die Unternehmensautonomie liegt erst dann vor, wenn die Streikforderung auf die Verhinderung der unternehmerischen Maßnahme selbst gerichtet ist.

Hessisches LAG, Urteil vom 2. Februar 2006 - 9 Sa 915/05 §§ 111 ff. BetrVG, Art. 9 Abs. 3, 12 Abs. 1 GG

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Bild: Erwin-Wodicka / stock.adobe.com
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Problempunkt

Im Jahr 2003 plante ein Druckmaschinenhersteller, die Produktion des Kieler Standorts ins Ausland zu verlagern und den deutschen Standort zu schließen. Die den Betriebsräten in den Sozialplanverhandlungen unterbreiteten Angebote gingen der Gewerkschaft nicht weit genug. Sie verlangte den Abschluss eines Sozialtarifvertrags, der die Zahlung einer Abfindung i.H.v. zwei Monatsgehältern pro Beschäftigungsjahr, eine Grundkündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende und eine Erhöhung um weitere zwei Monate pro Beschäftigungsjahr sowie 24-monatige Qualifizierungsmaßnahmen unter Fortzahlung der vollen Vergütung beinhalten sollte. Nachdem das Unternehmen dieses Angebot nicht akzeptierte, ließ die Gewerkschaft den Kieler Standort bestreiken. Der Arbeitgeberverband verlangte Unterlassung entsprechender Streikmaßnahmen für die Zukunft und Ersatz des Schadens aus dem Streik im Jahre 2003.

Entscheidung

Das Hessische Landesarbeitsgericht wies die Anträge des Arbeitgeberverbands ab, vgl. dazu auch Schmitt-Rolfes, AuA 3/06, S. 135. Dessen Argument, dass der Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile bei Betriebsschließungen und Standortverlagerungen allein durch die Betriebspartner zu klären seien, überzeugte das Gericht nicht. Die Regelungen zur Verhandlung eines Interessenausgleichs und Sozialplans (§§ 111 ff. BetrVG) würden den Abschluss eines Sozialtarifvertrags nicht sperren. Das Gesetz ginge in § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG selbst davon aus, dass typische Sozialplanregelungen auch Gegenstand eines Tarifvertrags sein können. Ebenso wurde ein unzulässiger Eingriff in die Unternehmensautonomie verneint (Art. 12 Abs. 1 GG). Auch weit überzogene Tarifforderungen müssten von den Arbeitgebern geduldet werden. Insoweit könne eine gerichtliche Kontrolle nicht erfolgen. Unzulässig seien nur Streikforderungen, die auf die Verhinderung der geplanten unternehmerischen Maßnahme selbst gerichtet sind. Ob dies der Fall ist, sei ausschließlich am Streikbeschluss zu prüfen. Die mit dem Streik verfolgte Strategie sei nicht überprüfbar. Schließlich seien die Gewerkschaften auch nicht darauf beschränkt, nur gegen den zuständigen Arbeitgeberverband vorzugehen. Es könnten auch einzelne verbandsangehörige Arbeitgeber bestreikt werden, um einen Verbandstarifvertrag abzuschließen, der räumlich ausschließlich auf dieses Unternehmen bezogen ist.

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Konsequenzen

Die Gewerkschaften sehen sich durch die Entscheidung in ihrem Vorgehen bestätigt. Es ist zu befürchten, dass sie nun vermehrt versuchen, sich durch entsprechende Tarifforderungen aktiv in Sozialplanverhandlungen einzumischen. Die Gewerkschaften haben sich bereits darauf eingestellt, dass die Verhinderung unternehmerischer Maßnahmen nicht im Streikbeschluss erwähnt werden darf. Sie versuchen dennoch, mit ihren Arbeitskampfmaßnahmen genau dieses Ziel zu erreichen. Das Urteil des Hessischen LAG hat dafür Tür und Tor geöffnet. Die Arbeitnehmervertretungen können die intendierte Verhinderung der unternehmerischen Maßnahmen im Streikbeschluss ganz einfach dadurch "tarnen", dass sie dort nur Regelungen aufführen, die inhaltlich den sozialverträglichen Personalabbau betreffen (Abfindungen, Umsetzungsausgleich, Qualifizierungsgesellschaften), diese Forderungen aber so hoch ansetzen, dass eine Betriebs- oder Standortschließung wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist. Das Gericht übersieht, dass auf diese Weise die Umsetzung notwendiger Maßnahmen faktisch unmöglich gemacht wird. Die Einschränkung, dass dieses Motiv nicht ausdrücklich im Streikbeschluss stehen darf, ist damit bedeutungslos.

Das jüngste Beispiel - Schließung des AEG-Werks in Nürnberg - zeigt, dass die Forderungen der Gewerkschaften einen Umfang erreicht haben, der das wirtschaftlich Zumutbare deutlich überschreitet. Lediglich an Abfindungen hat die IG Metall drei Gehälter pro Beschäftigungsjahr verlangt. Der Gesetzgeber sieht einen halben Monatsverdienst pro Beschäftigungsjahr als angemessenen Ausgleich vor (vgl. § 1a KSchG). Die Gewerkschaften schießen damit weit über das Ziel hinaus. Die Verteuerung des Personalabbaus kann zur Gefährdung des gesamten Unternehmens und damit der verbleibenden Arbeitsplätze führen. Ausländische Investoren, die dem Wirtschaftsstandort Deutschland wegen seines stark ausgeprägten Arbeitsrechts ohnehin skeptisch gegenüberstehen, könnten von Investitionen in der Bundesrepublik völlig abgeschreckt werden. Die Schaffung neuer Stellen wird damit verhindert. Es wäre daher angezeigt, Tarifforderungen auch einer Kontrolle auf ihre wirtschaftlichen Vertretbarkeit zu unterwerfen, wie es im Bereich der Sozialpläne geschieht (vgl. § 112 Abs. 5 BetrVG).

Praxistipp

Für den Arbeitgeber empfiehlt es sich, zu prüfen, ob für seinen Betrieb und die geplante Maßnahme Tarifverträge (sog. Rationalisierungsschutzabkommen und Standortsicherungsverträge) zur Anwendung kommen. Soweit dies der Fall ist (z.B. Versicherungswirtschaft), können gegenüber verbandsangehörigen Unternehmen aufgrund der Friedenspflicht keine Regelungen erstreikt werden, die bereits sachlich durch bestehende Tarifverträge abgedeckt sind. Kann man sich auf solche Regelungen nicht zurückziehen, sollte geprüft werden, ob einem Streik durch Nutzung von Kapazitäten anderer Standorte oder Drittunternehmen begegnet werden kann. Da sich das Bundesarbeitsgericht nun erstmals mit der Thematik befassen wird, bleibt zu hoffen, dass den Gewerkschaften im Zusammenhang mit dem Erstreiken von Sozialtarifverträgen engere Grenzen gesetzt werden.

RA Lars Mohnke, Lovells, München

Redaktion (allg.)

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