Kenntnis von Schwerbehinderung bei Kündigung

Eine ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes erklärte Kündigung ist unwirksam, wenn der Betriebsrat in seiner Anhörung auf eine etwaige Schwerbehinderung des Arbeitnehmers hingewiesen hat. Einer gesonderten Information des Arbeitgebers durch den Arbeitnehmer innerhalb eines Monats nach Erhalt der Kündigung bedarf es dann nicht mehr.

(Leitsatz des Verfassers)

BAG, Urteil vom 20. Januar 2005 - 2 AZR 675/03 §§ 85, 87 SGB IX, § 102 BetrVG

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Problempunkt

Die Klägerin war bei der Beklagten als Auszeichnerin/Kommissioniererin beschäftigt. Nach einer Bandscheibenoperation konnte sie verschiedene Arbeiten nicht mehr ausführen. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis. Der Betriebsrat hatte der Kündigung in seiner Anhörung widersprochen und auf eine ihm gegenüber erfolgte Erklärung der Klägerin verwiesen, die Anerkennung als Schwerbehinderte beantragt zu haben. Der Beklagten war ein solcher Antrag ansonsten nicht bekannt. Durch späteren Bescheid des Versorgungsamtes wurde rückwirkend - auf die Zeit vor Ausspruch der Kündigung - die Schwerbehinderung festgestellt. Die Klägerin beruft sich auf die Unwirksamkeit der Kündigung infolge der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes. Die Beklagte meint demgegenüber, die Klägerin habe sie nicht rechtzeitig über ihre Antragstellung informiert; der Hinweis in der Stellungnahme des Betriebsrates habe nicht ausgereicht.

Die Klage war in erster und zweiter Instanz erfolgreich.

Entscheidung

Das BAG hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen, da die Kündigung mangels vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes unwirksam ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats erfordert der Sonderkündigungsschutz zugunsten eines Schwerbehinderten, dass vor Zugang der Kündigung ein Bescheid über die Schwerbehinderteneigenschaft ergangen, zumindest aber beantragt ist (zuletzt Urt. v. 7.3.2002 - 2 AZR 612/00, BAGE 100, S. 355 mit Verweis auf frühere Urteile). Die Klägerin hat rechtzeitig vor Ausspruch der Kündigung die Anerkennung als Schwerbehinderte beim Versorgungsamt beantragt. Der Senat hält aus Gründen des Vertrauensschutzes auch an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass der Schwerbehinderte verpflichtet ist, den Arbeitgeber innerhalb eines Monats über den besonderen Kündigungsschutz infolge der Feststellung durch das Versorgungsamt bzw. die dortige Antragstellung zu informieren, wenn ihm dieser noch nicht bekannt ist (Urt. v. 7.3.2002, a.a.O.). Denn der Arbeitgeber, der die bestehende oder potenzielle Schwerbehinderung nicht kennt, hat keinen Anlass, ein Zustimmungsverfahren beim Integrationsamt einzuleiten. Dies gilt dem BAG zufolge aber nur im Falle eines anerkennenswerten Schutzbedürfnisses des Arbeitgebers, das fehlt, wenn die Schwerbehinderung für ihn offensichtlich ist oder der schwerbehinderte Arbeitnehmer ihn schon vor der Kündigung über seine körperlichen Beeinträchtigungen und die beabsichtigte Antragstellung informiert hat.

Der Senat hat den Vertrauensschutz der Beklagten verneint, weil der Betriebsrat sie im Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG über die Äußerung der Klägerin informiert hat, beim Versorgungsamt einen Feststellungsantrag gestellt zu haben. Daher sei der Beklagten der mögliche Sonderkündigungsschutz soweit bekannt gewesen, dass sie beim Integrationsamt vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung hätte beantragen können. Das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG diene auch dazu, dass der Betriebsrat die besondere Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers aufklärt und mit dem Arbeitgeber erörtert. Ein unter Hinweis auf die Antragstellung des Arbeitnehmers erklärter Widerspruch sei so gewichtig, dass der Arbeitgeber diese Information nicht unberücksichtigt lassen dürfe. Eine eigene Information durch die Klägerin nach Erhalt der Kündigung sei daher nicht mehr erforderlich gewesen.

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Konsequenzen

Die Entscheidung behandelt die altbekannte, in der Praxis gleichwohl immer wieder auftretende Problematik der Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers, der diese Eigenschaft bzw. die - beabsichtigte - Antragstellung dem Arbeitgeber (noch) nicht mitgeteilt hat und für den die Schwerbehinderteneigenschaft nicht offenkundig ist. An seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung über die Pflicht des betroffenen Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber zur Erhaltung seines Sonderkündigungsschutzes innerhalb einer angemessenen Frist von maximal einem Monat ab Zugang der Kündigung die bestehende Schwerbehinderung bzw. die diesbezügliche Antragstellung mitzuteilen, will der Senat zwar festhalten.

Die hiernach gegebene Risikoverteilung zwischen den Parteien - die arbeitgeberseitige Kündigung wird durch die Mitteilung über die bestehende Schwerbehinderung bzw. die erfolgte Antragstellung unwirksam; der Arbeitnehmer verliert ohne Erfüllung seiner Informationspflicht seinen Sonderkündigungsschutz - wird durch die vorliegende Entscheidung gleichwohl in Frage gestellt. Zwar besteht der Sonderkündigungsschutz auch schon dann, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich ist. Fehlt es jedoch hieran, wird die dem Arbeitnehmer in seinem eigenen Interesse obliegende Informationspflicht zum Nachteil des Arbeitgebers dahingehend abgeschwächt, dass nunmehr auch schon ein Hinweis an den Betriebsrat ausreichen soll, der in dessen Stellungnahme gegenüber dem Arbeitgeber einfließt.

Die Anforderungen an den schwerbehinderten Arbeitnehmer sind nach der bisherigen Rechtsprechung relativ gering, da er lediglich den Arbeitgeber über seine Schwerbehinderung bzw. die diesbezügliche Antragstellung innerhalb eines Monats ab Zugang der Kündigung zu benachrichtigen hat. Angesichts dessen erscheint es als eine nicht sachgerechte Risikoverlagerung zu Lasten des Arbeitgebers, wenn nunmehr eine mittelbare, mithin mediatisierte Information über den Betriebsrat mit allen damit einhergehenden Kommunikationsproblemen ausreichen soll. Dies schafft nur neue Rechtsunsicherheit.

Praxistipp

Das Urteil des BAG erhöht die Anforderungen an den Arbeitgeber, vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem möglicherweise schwerbehinderten Arbeitnehmer bei diesem selbst Rückfrage zu halten - und ihn damit ggf. erst zu einer Antragstellung beim Versorgungsamt zu veranlassen - oder aber vorsorglich einen Zustimmungsantrag nach § 87 SGB IX beim zuständigen Versorgungsamt zu stellen. Die Stellungnahme des Betriebsrats in der Anhörung nach § 102 BetrVG ist zukünftig genau auf etwaige Hinweise auf eine potenzielle Schwerbehinderung des zu kündigenden Arbeitnehmers zu überprüfen. Der Arbeitgeber kann sich demgegenüber nicht mehr darauf verlassen, dass ihn ein Arbeitnehmer seinerseits zum Erhalt seines Sonderkündigungsschutzes als Schwerbehinderter innerhalb eines Monats nach Erhalt der Kündigung entsprechend informieren muss.

RA Dr. Werner Holtkamp, Rechtsanwälte Godefroid & Pielorz, Düsseldorf

Redaktion (allg.)

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