Am 6. und 7. Juni 2024 fand in Erfurt das 11. Europarechtliche Symposion des Bundesarbeitsgerichts und des Deutschen Arbeitsgerichtsverbands e. V. statt. Die Veranstaltung war Verbunden mit dem Festakt zur Würdigung der Gründung des BAG vor 70 Jahren.
BAG-Präsidentin Inken Gallner eröffnete das Symposion und betonte in ihrer Begrüßungsrede, dass nicht nur das deutsche BAG, sondern auch das europäische Arbeitsrecht seit 70 Jahren besteht. Im weiteren Verlauf kam sie u. a. auf den Arbeitskräftemangel und Nachwuchsprobleme aufgrund des demografischen Wandels sowie ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des BAG, welches in einem Vortrag am zweiten Veranstaltungstag vorgestellt wurde, zu sprechen.
Im Rahmen des Festaktes bezeichnete Gallner 2024 als „Jahr der Jubiläen“ und verwies damit neben dem 70-jährigen Bestehen des BAG auch auf das 75. Jubiläum unseres Grundgesetzes, welches „im besten Sinn der Gegenentwurf einer Diktatur“ sei. Zudem fällt auch der 35. Jahrestag der friedlichen Revolution sowie des Mauerfalls in dieses Jahr. Gallner führte aus, dass sich mit der Wiedervereinigung der Riss zwischen Ost und West lange Zeit zu schließen schien. Jedoch seien die Auswirkungen des Beitrittsprozesses noch immer spürbar, auch bei jüngeren Menschen. Sie warf die Frage auf, ob Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht hatten, ausreichend Anerkennung entgegengebracht wurde. In Bezug auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg rief Gallner dazu auf, wählen zu gehen und äußerte mit Blick auf weitere anstehende Wahlen und die wachsende Zustimmung zu rechter Politik Bedenken, dass die bestehende Spaltung der Gesellschaften in Europa und den USA noch deutlicher zutage treten könnte. Sie appellierte, dass wir unser Modell des friedlichen Zusammenlebens und des Aushaltens von Meinungsvielfalt aufrechterhalten. Ein Zeichen der Hoffnung sei es, dass sich die bisher schweigende Mitte gegen Menschhass wende. „All diese Menschen treten dafür ein, dass das Unsagbare nie wieder sagbar wird“, so Gallner.
Das grundlegende Prinzip der Rechtstaatlichkeit werde in der Zusammenarbeit der Rechtsprechung, aber auch im Diskurs deutlich. Das Grundgesetz strebe eine europäische Integration und internationale Friedensordnung an. Das europäische Arbeitsrecht als Schwerpunkt des Symposions bezeichnete sie als Metathema, welches die Balance oder auch das Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Subsidiarität mit sich bringe.
In Bezug auf den Zusammenhang von Arbeits- und Verfassungsrecht kam die BAG-Präsidentin auf die Frage des Arbeitskoalitionsrechts bzw. der Tarifautonomie zu sprechen, ob es Freiheit nur in Gleichheit gibt. Die nach deutschem Verständnis erforderliche Voraussetzung der Tariffähigkeit steht vor dem Hintergrund des Art. 11 EMRK, der jeder Person das Recht zusichert, Gewerkschaften zu gründen und beizutreten, auf dem Prüfstand. Auch daran werde deutlich, dass das einfachgesetzliche deutsche Arbeitsrecht durch Verfassungs-, Unions- und sonstiges Europarecht durchformt.
Statt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der kurzfristig nicht vor Ort sein konnte, hielt Lilian Tschan, Staatssekretärin im BMAS, die Festrede zum 70-jährigen Bestehen des Bundesarbeitsgerichts. Auch sie stellte fest, dass es aufgrund des gleichzeitigen Jubiläums des Grundgesetzes und der friedlichen Revolution „reichlich Anlass zu feiern“ gebe. An Letzterer seien die Menschen in Erfurt u. a. mit den „Willy Brandt ans Fenster“-Rufen beteiligt gewesen. Brandt sei „Idealist, jedoch kein Träumer“ gewesen, so Tschan. Ihn zitierte sie mit den berühmten Worten: „Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer“, welche großartig unterstreichen würden, wieso es wichtig ist, das 70-jährige Bestehen des BAG zu feiern. Auch das Gericht musste nach seiner Gründung zunächst das NS-Unrecht überwinden und dazu „einen weiten Weg gehen und teils nicht nur neues Recht auslegen, sondern als Rechtsschöpfer tätig werden und Lücken füllen“.
Auch die europäische Integration wurde im Arbeitsrecht immer deutlicher. Waren zunächst vor allem wirtschaftliche Aspekte erfasst, erfuhren nach und nach auch soziale immer stärkere Sichtbarkeit: Leiharbeit, Arbeitnehmerentsendung, Elternzeit, Mindestlohn. Das europäische Recht sei „keine Einbahnstraße“, das sog. „German Vote“ aber leider „ein Synonym für Enthaltungen auf europäischer Ebene“ geworden. Jedoch sei „die Fähigkeit zum Aushandeln von Kompromissen“ maßgeblich für unseren Rechtsstaat.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Stephan Harbarth betonte in seinem anschließenden Festvortrag, dass das „BAG seit seiner Gründung im Jahr 1954 eine tragende Säule des deutschen Rechtsstaats“ sei, dessen Wächteramt hohe Sensibilität für das Verfassungsrecht verlange. Zudem trage das Gericht maßgeblich zum sozialen Zusammenhalt in unserem Land bei.
Er fügte den bereits genannten das 175. Jubiläum der Paulskirchenverfassung hinzu, welche u. a. zur Absicherung der Justiz gegen die übrigen Gewalten beigetragen hat, bspw. durch das Verbot von Ausnahmegerichten oder das Recht auf gesetzliche Richter. Schon die Verfassung der Paulskirche war nach Harbarth „Produkt eines Dialogs quer durch Europa“.
Er verwies auf die unionsrechtlichen Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit, die sich aus einer Gesamtschau der drei Vorschriften ergeben:
- der Wert der Rechtsstaatlichkeit, Art. 2 EUV
- das Gebot effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 EUV
- die Unabhängigkeit des Gerichts, Art. 47 EU-GRC
In diesem Zusammenhang verwies Harbarth auf die Feststellung des EuGH, „dass Art. 2 EUV keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten darstellt, sondern Werte enthält, die […] der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten“. Der unionsrechtliche Unabhängigkeitsbegriff sei zudem offen für die mitgliedstaatlichen Vorstellungen, wie sich aus verschiedenen europäischen Vorschriften ergebe.
Im weiteren Verlauf seines Vortrags hob Habarth u. a. die Differenzierung zwischen der Regelungskompetenz und der Kontrollkompetenz sowie die Autonomie der Mitgliedstaaten hervor. Denn der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung sehe gerade keine Regelungskompetenz der EU und ihrer Organe vor. Daher bedürfe es „sachgerechter Kriterien zur Begrenzung der unionalen Kontrollkompetenz“, da sonst eine Einführung durch die Hintertür zu befürchten sei.
Zuletzt sprach er noch das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 267 AUEV an und stellte dessen Bedeutung zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und freiheitlich demokratischen Grundordnung heraus. Das Beispiel der Justizreform in Polen zeige den Umgang mit Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die die Unabhängigkeit nach unionsrechtlichem Verständnis gefährden (können). Hierbei spiele zudem das Rückschrittverbot eine Rolle und die Maßnahmen seien in ihrem Gesamtgefüge sowie dem Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen zu betrachten. Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens kann die Europäische Union dem Mitgliedstaat die konkrete Beseitigung auferlegen. Das sei notwendig, um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, welche ohne den Schutz auch anderer grundlegender Rechte, wie bspw. der Pressefreiheit, leerlaufe.
Auch François Biltgen, Kammerpräsident am Gerichtshof der Europäischen Union, kam – nach Aussprache der obligatorischen Glückwünsche zum 70-jährigen Bestehen des BAG – schnell zur Rolle des EuGH, dessen Aufgabe die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sei. Seit Gründung des EuGH bzw. des EuG hätten diese zwar einen Arbeitszuwachs zu verzeichnen, dennoch ermuntere der EuGH das vorlegende Gericht, seine eigene Rechtsauffassung darzulegen. Denn das Recht der EU habe sich nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern auf Grundlage des europäische Primärrechts und zahlreicher sekundärrechtlicher Vorschriften. Dabei sei stets dessen Subsidiarität zu beachten. Ein Vorrang des EU-Rechts sei nur bei einer direkt wirksamen Bestimmung gegeben.
Die Entwicklung des EU-Rechts zeigte er sodann am Beispiel des autonomen Begriffs des Arbeitsnehmers, der zunächst nur i. R. d. Arbeitnehmerfreizügigkeit galt, und dessen Erweiterung und Anwendung bspw. auch auf Scheinselbstständige auf.
Im Anschluss widmete er sich aktuellen Fragen des Urlaubsrechts, insbesondere der Nachgewährung von Urlaub bei coronabedingter Quarantäneanordnung, der Vererbbarkeit nicht genommenem Urlaubs und der Hinweispflicht des Arbeitsgebers.
Abschließend setzte Biltgen sich mit dem EuGH-Urteil C-55/18 – CCOO vom 14.52019 auseinander, welches seiner Meinung nach zu Unrecht häufig als „Stechuhr-Urteil“ betitelt wird.
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion stellte er klar, dass der EuGH mit Urteil vom 7.7.2022 im sog. Coca-Cola-Verfahren nicht zu einer möglicherweise falschen oder Nichtumsetzung der Arbeitszeitrichtlinie entschieden, sondern festgestellt hat, dass die gegenständlichen nationalen Bestimmungen, die höhere Lohnzuschläge für regelmäßige als für unregelmäßige Nachtarbeit vorsehen, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen und daher der EuGH aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht zuständig ist.
Den Abschluss des ersten Veranstaltungstages bildete der Vortrag von Dr. Doris-Maria Schuster, Rechtsanwältin, Hamburg, zur „Entgeltgleichheit zwischen Primärrecht, Richtlinie und deutschem Recht“. Dieser befasste sich zunächst mit den Ursprüngen der Entgeltgleichheit sowie dem deutschen Entgelttransparenzgesetz und der europäischen Entgelttransparenzrichtlinie. Schuster warf die Frage auf, ob der Gender Pay Gap der Beleg für die anhaltende Entgeltdiskriminierung sei, bevor sie Anspruchsgrundlagen für Entgeltgleichheitsklagen und sich ergebende Praxisfragen zur Entgeltgleichheit thematisierte.
Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete Prof. Dr. Claudia Schubert, Universität Hamburg, mit dem Vortragstitel „Europäisches Arbeitsrecht als Teil einer Wirtschafts-, Währungs- und Werteunion zwischen Harmonisierung und Subsidiarität“. Sie ging zunächst auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein, welche sie als „Teil der DNA der europäischen Union“ betitelte. Das nationale Arbeitsrecht sei an grenzüberschreitende Sachverhalte anzupassen, ohne das inländische Recht grundsätzlich zu überformen.
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Nachfolgend thematisierte Schubert europäisches Arbeitsrecht zur Begrenzung der Auswirkungen des Binnenmarktes sowie der Währungsunion auf das nationale Arbeitsrecht und europäisches Arbeitsrecht als Ausgestaltung einer sozialen Marktwirtschaft. Insbesondere stellte sie sich gegen die Betrachtung des Arbeitsrechts als Menschenrecht, obwohl eine Reihe arbeitsrechtlicher Regelungen einen Menschenrechtsbezug hätten. Denn im Falle einer Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse müsse auch die Absenkung sozialer Standards möglich sein. „Wir können Ziele haben und diese trotzdem nicht vollumfänglich erreichen“, so Schubert.
In der anschließenden Diskussion nannte Regine Winter, Richterin am BAG a. D., die Möglichkeit, dass oberste Bundesgerichte dem EuGH nicht nur bei Bedenken wegen des rechtlichen Gehörs vorlegen, sondern auch dann, wenn sie meinen, etwas beitragen zu können. Schubert erwiderte, dass die obersten Bundesgerichte das heute als konstruktiven Dialog begreifen und keineswegs nur bei Angst vor dem Bundesverfassungsgericht vorlegen.
In Ihrem anschließenden Statement zum Vortrag hob BAG-Präsidentin Gallner das Zitat Schuberts hervor: „Arbeiten im Gerichtsverbund heißt, Macht zu teilen.“
Zum ersten Mal fand i. R. d. Europarechtlichen Symposions eine Podiumsdiskussion statt. Isabel Eder, Abteilungsleiterin Recht und Vielfalt, DGB Bundesvorstand, und Arne Franke, Abteilungsleiter Europa, BDA, diskutierten die Rolle der Sozialpartner in der europäischen Rechtsetzung.
In ihrem Eingangsstatement gab Eder einen Überblick über den Ablauf des sozialen Dialogs in der Praxis und nannte Weiterentwicklungswünsche, wie die Ausrichtung auf den sektoralen, statt branchenübergreifenden Dialog und die Verbesserung der Durchsetzungsmechanismen.
Franke bezeichnete die Sozialpartner als „faktisch[e] Co-Gesetzgeber des europäischen Rechts“. Zudem kritisierte er die aktuelle Situation des Abschlusses von Vereinbarungen: „Es gab noch nie so viel sozialpolitische EU-Gesetzgebung wie in den letzten Jahren. […] Gleichzeitig hat es noch nie so wenig durch die Sozialpartner selbst gestaltete EU-Gesetzgebung gegeben.“ Diesen Zusammenhang erklärte er mit einem strategischen Dilemma der Gewerkschaften: Während aus Arbeitgebersicht verhandelt werden könnte, übernähmen die Gesetzgeber die Rolle der Gewerkschaften ohne Kompromisse. Die Gewerkschaften hätten also keinen Grund, zu verhandeln.
Eder erwiderte, dass sie sich in diesem Fall „auf die Tele-Work-Verhandlungen gar nicht eingelassen“ hätten. Zudem würde sie „den sozialen Dialog […] nie infrage stellen“, dessen Ergebnis sollte jedoch greifbar sein.
Auch Franke richtete die Bitte an die Europäische Kommission: „Gebt uns eine gewisse Prognostizierbarkeit an die Hand.“
Der zweite Tag schloss mit der Vorstellung des Forschungsvorhabens zur Geschichte des BAG. Dr. Samuel Miner, Institut für Zeitgeschichte, zeigte sich zunächst dankbar für die uneingeschränkte Unterstützung und Ermutigung durch das BAG. Er verwies darauf, dass es trotz und gerade wegen der zahlreichen Jubiläen der Gegenwart, eines angemessen Blicks in die Vergangenheit bedarf.
Miner stellte den aktuellen Stand des Projekts dar und gab einen Überblick über seine Arbeit. Er zeichnete ein erschreckendes Bild der Geschichte der ersten BAG-Richter, von denen manche das Arbeitsrecht in der NS-Zeit maßgeblich geprägt hatten und die teilweise über eine NSDAP-Mitgliedschaft hinaus auch der SA angehört hatten. Er verdeutlichte, dass diese Einstellung – in teils merklichem Ausmaß – noch lange nach Kriegsende spürbar war.
Redaktion (allg.)

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Liebe Frau Gallner, die Entscheidungen des EuGH sind für die nationalen Gerichte bindend und entsprechend
es ist Zeit für Jubiläen. Jüngst haben wir auf 75 Jahre Grundgesetz zurückgeblickt, 2024 ist zudem das 35. Jubiläum des Mauerfalls und auch das BAG
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