„Arbeitgeber tragen das volle Risiko einer Fehleinordnung“
Gig-Economy und Plattformarbeit: Selbständigkeit oder verstecktes Arbeitsverhältnis? Die rechtliche Einordnung von Plattformarbeit ist mitunter schwierig und ihre Auswirkungen auf traditionelle Arbeitsverhältnisse umso größer. Lassen Sie uns zunächst die Begrifflichkeiten klären.
Franzmann: Gig-Economy bezeichnet die Arbeitserbringung auf der Grundlage kurzfristiger, flexibler Arbeitsaufträge, auch „Gigs“ genannt. Wir kennen diese Begrifflichkeit aus der Kunstszene, auch dort wird von „Gigs“ gesprochen; das sind Auftritte für ein Konzert oder eine Theateraufführung.
Lelley: Die Gig-Economy basiert auf digital vermittelten Einzelaufträgen über Plattformen oder Apps, bei denen Auftragnehmer projektbezogen und flexibel Leistungen erbringen. Aus Arbeitgebersicht eröffnet sie Chancen für eine passgenaue Ressourcensteuerung, etwa durch kurzfristige Verfügbarkeit und Kostentransparenz. Gleichzeitig entstehen neue rechtliche Risiken, weil Plattformen durch algorithmische Steuerung, Bewertungssysteme und Anreizmechanismen faktisch Arbeitgeberfunktionen übernehmen können. Der EuGH hat in seinem Urteil „Yodel Delivery“ (C-692/19) hervorgehoben, dass entscheidend ist, ob der Auftragnehmer tatsächlich die Freiheit hat, seine Tätigkeit eigenverantwortlich zu gestalten. Arbeitgeber sollten daher prüfen, ob die vertragliche Gestaltung und die technische Plattformsteuerung diesen Anforderungen entsprechen.
Wie ist diese Form der Arbeitserbringung arbeitsrechtlich einzuordnen?
Franzmann: In zweierlei Hinsicht. Ich beschreibe die Merkmale der Abhängigkeit, Kollege Lelley widmet sich denen, die für eine selbständige Tätigkeit sprechen. Abhängigkeit heißt im Wesentlichen Weisungsgebundenheit. § 106 GewO ist die Ausgangsnorm des Arbeitsrechts, wonach der Arbeitgeber Ort, Zeit und Inhalt der Arbeit anweisen darf und der Arbeitnehmer sich hierunter in einer Arbeitsorganisation eingliedert. Kurz gesagt: Der Arbeitnehmer gibt seine Zeit im versprochenen Umfang und der Arbeitgeber macht hiermit – selbstverständlich nur im vertraglichen Umfang – was ihm am meisten nutzt.
Lelley: Maßgeblich ist eine funktionale Betrachtung. Arbeitgeber sollten darauf achten, dass Vertragsbeziehungen mit Gig-Arbeitnehmern klar den Charakter eines Werk- oder Dienstvertrags haben – also eben kein Arbeitsvertrag sind. Das BAG (Urt. v. 1.12.2020 – 9 AZR 102/20) hat klargestellt, dass auch Crowdworker Arbeitnehmer sein können (nicht müssen!), wenn sie weisungsgebunden und in die Arbeitsorganisation eingebunden sind. Wird die Tätigkeit durch Leistungsanweisungen oder algorithmische Vorgaben faktisch gesteuert, spricht dies gegen Selbständigkeit. Unternehmen sollten daher die operative Steuerung kritisch prüfen und dokumentieren, um Rechtsklarheit zu schaffen.
Können sich die jeweiligen Vertragspartner die Art der Arbeitserbringung – also in Abhängigkeit oder in Selbständigkeit – aussuchen?
Franzmann: Nein. Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es weniger auf die Vertragslage, denn auf die tatsächliche Vertragsdurchführung ankommt. Welche der oben genannten Kriterien prägen das Vertragsverhältnis? Sprechen wir von einem Auftraggeber, der wiederholt denselben Auftragnehmer beschäftigt, spricht vieles für persönliche Abhängigkeit durch Weisung. Hat der Auftragnehmer mehrere Auftraggeber und handelt er mit gewisser Marktmacht, spricht viel für Selbständigkeit.
Lelley: Vertraglich kann Selbständigkeit vereinbart werden, aber sie muss auch gelebt werden. Für Arbeitgeber bedeutet das: keine faktische Einsatzplanung, keine Vorgabe von Arbeitszeit oder -ort, keine Sanktionen bei Auftragsablehnung. Compliance-Prozesse sollten regelmäßig prüfen, ob die Selbständigkeitskriterien noch erfüllt sind. Nur wenn die Auftragnehmer tatsächlich unternehmerisch handeln, eigene Betriebsmittel nutzen und das wirtschaftliche Risiko tragen, bleibt das (Arbeits-)Vertragsverhältnis rechtssicher. Eine klare vertragliche und vor allem tatsächliche Trennung ist daher zentral.
Wie verhält sich die Mitbestimmung dazu?
Franzmann: Der Betriebsrat ist nur für Arbeitnehmer zuständig und die Arbeitnehmereigenschaft wird durch das Merkmal der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers begründet. Mehr noch als im Individualverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien zielt die Betriebsverfassung auf die tatsächliche Durchführung. Je tiefer das Miteinander im täglichen „Doing“, desto eher greift die Eingliederung und damit die Zuständigkeit des Betriebsrats. Die Vertragslage selbst ist dabei eher unerheblich.
Lelley: Für Arbeitgeber ist relevant, dass die Mitbestimmung des Betriebsrats nur Arbeitnehmer betrifft. Solange Plattformtätige rechtlich selbständig bleiben, entfällt diese. Allerdings kann bei einer faktischen Eingliederung eine Mitbestimmungspflicht entstehen. Bei manchen Landesarbeitsgerichten und Arbeitsgerichten liest man hier und da, dass bei enger organisatorischer Einbindung eine Zuständigkeit des Betriebsrats denkbar ist. Nun, denkbar ist ja vieles, wie wir alle wissen. Für die Praxis aber sagt das ja wenig. Unternehmen sollten Transparenz über Einsatz und Steuerung von Plattformarbeit schaffen und klare Abgrenzungskriterien definieren.
Wo liegen die Risiken, wenn sich die Arbeitsvertragspartner irren und die falsche Vertragsform wählen?
Franzmann: Die Rentenversicherungsträger haben ein eigenständiges Prüfungsrecht und in der Praxis wird dies auch durchaus ernst genommen. Sozialversicherungsrechtliche Bestandsaufnahmen können einen Arbeitgeber schon mal ins Schwitzen bringen. Stellt sich heraus, dass Scheinselbständigkeit besteht, drohen Rückzahlungsansprüche für nicht geleistete Sozialversicherungsbeiträge für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren.
Lelley: Arbeitgeber tragen das volle Risiko einer Fehleinordnung. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass ein Arbeitnehmerverhältnis vorlag, drohen Nachforderungen der Sozialversicherungsbeiträge, Säumniszuschläge und mögliche Strafverfahren. Das BSG (Urt. v. 1.2.2022 – B 12 KR 37/19 R) stellt, und dies immer wieder, klar, dass wirtschaftliche Abhängigkeit und fehlendes Unternehmerrisiko entscheidende Kriterien sind. Unternehmen sollten präventiv ein Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV nutzen, um spätere Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Zum Schluss: Welche Vertragsform ist interessengerechter?
Franzmann: Tja, wie so oft: Es kommt drauf an. Wenn ich die Szene beobachte, sehe ich gehörigen Missbrauch nach dem Motto: das Arbeitsrecht ist zu kompliziert, also schließen wir seine Anwendung im Einzelfall aus. Gerade start ups wie Lieferdienste tun sich da hervor. Es ist halt nicht damit getan, tolle Tools zu entwerfen und sich dann jeglicher Verantwortung zu enthalten. Generell meine ich, je qualifizierter die Arbeit und damit einhergehend, je stärker die Verhandlungsmacht des Einzelnen, desto eher ist Selbständigkeit möglich.
Lelley: Die interessengerechteste Lösung ist oft eine Kombination aus Flexibilität und Rechtssicherheit. Arbeitgeber sollten Plattformarbeit in eine saubere Governance-Struktur einbetten, etwa durch Rahmenverträge mit klar definierten Leistungsbeschreibungen, Haftungs- und Vergütungsregeln. Auch hybride Modelle, die projektbezogene Selbständigkeit mit sozialer Absicherung verbinden, können sinnvoll sein. Der Entwurf der EU-Richtlinie über Plattformarbeit zeigt, dass künftig mehr Transparenz und Verantwortlichkeit gefordert sein werden. Wer diese Anforderungen frühzeitig umsetzt, sichert nicht nur Rechtskonformität, sondern auch Attraktivität als Arbeitgeber.
Dr. Jan Tibor Lelley
