Arbeitszeit in der Grauzone
Vergütungsfragen nicht gesetzlich geregelt
Das ArbZG ist ein öffentlich-rechtliches Arbeitsschutzrecht. Es beruht auf einer europäischen Arbeitszeit-RL. Die besagte Arbeitszeit-RL 2003/88/EG enthält nach Art. 1 Abs. 1 Mindestvorschriften für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung (Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 1 Rn. 5). Die Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der Europäischen Union soll ein einheitliches Mindestschutzniveau sicherstellen und so einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer gewährleisten (Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, a. a. O., § 1 Rn. 5; Ulber, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 98). Das ArbZG gibt zwar Antworten auf die Bestimmung von Arbeitszeit, regelt jedoch keine zivilrechtlichen Vergütungsfragen im Zusammenhang mit der Erbringung von Arbeitszeit.
Vergütung von Arbeitszeit
Die Frage, wie Arbeitszeit vergütungsrechtlich zu behandeln ist, richtet sich allein nach zivilrechtlichen Normen. Die arbeitszeitrechtliche Judikatur des EuGH bezieht sich alleine auf das öffentliche Arbeitszeitrecht, also nur auf die Arbeitszeit i. S. d. ArbZG. Wie auch der EuGH in den beiden neueren Entscheidungen klarstellt, nehmen diese keinen (direkten) Einfluss auf das Vergütungsrecht. Vielmehr unterliegt die Entscheidung, wie einschlägige Zeiten zu vergüten sind, allein den Mitgliedstaaten. Das deutsche Recht weist die Vergütungsgestaltung – abgesehen vom gesetzlichen oder entsenderechtlichen Mindestlohn – bekanntlich den Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien zu (Bayreuther, Entwicklungslinien im Arbeitszeitrecht: Bereitschaftsdienst, Wege- und Umkleidezeiten, in: NZA 2021, S. 745). Die gesetzliche Grundlage des Vergütungsanspruchs eines Arbeitnehmers ergibt sich u. a. aus den §§ 611a, 612 BGB sowie aus tarifvertraglichen und kollektivrechtlichen Verträgen. Simplifiziert ausgedrückt, ist einzig für den Vergütungsanspruch entscheidend, dass es sich überhaupt um ein „arbeitszeitorientiertes Vergütungsmodell“ handelt.
Arbeitszeit und Ruhezeit
Der Anwendungsbereich des ArbZG gilt gem. § 2 Abs. 2 für Arbeiter und Angestellte sowie für die zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten. § 18 ArbZG macht von der Befugnis nach Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeit-RL 2003/88/EG Gebrauch, indem bestimmte Arbeitnehmergruppen aus dem persönlichen Anwendungsbereich der Arbeitszeit-RL und damit auch aus dem des ArbZG herauszunehmen sind (Balze, in: Oetker/Preis, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, B 3100, Rn. 67). Für die Personengruppen nach § 18 ArbZG gelten lediglich die allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer. Diese allgemeinen Grundsätze sind auf EU-Ebene in der Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie in Art. 6 RL 89/391/EWG niedergelegt und für das deutsche Recht in § 4 ArbSchG konkretisiert worden (Balze, in: Oetker/Preis, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, B 3100, Rn. 79).
Den Begriff der Arbeitszeit definiert § 2 Abs. 1 ArbZG als die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Die Definition der Arbeitszeit ist somit lediglich negativ abgegrenzt zum Begriff der Ruhepausen und Ruhezeit. Insofern sind Arbeitszeit und Ruhezeit i. S. d. ArbZG entsprechende Gegenpole (EuGH, Urt. v. 9.3.2021 – C-580/19 sowie C-344/19).
Zur Arbeitszeit i. S. d. ArbZG gehört nicht allein die Vollarbeit, sondern unter Arbeitszeit können Zeiten der Arbeitsbereitschaft und des Bereitschaftsdienstes zählen, da es auf die Intensität der Arbeit nicht ankommt. In der Regel zählen Zeiten der Rufbereitschaft grundsätzlich nicht zur Arbeitszeit, es sei denn, der Arbeitnehmer wird tatsächlich zur Arbeitsleistung herangezogen. Das ArbZG definiert jedoch keinen dieser Begriffe (Koch, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching [Hrsg.], BeckOK Arbeitsrecht, 61. Ed., ArbZG § 2 Rn. 3).
1. Rufbereitschaft
Bei der Rufbereitschaft hält sich der Arbeitnehmer am Ort seiner Wahl auf, muss aber erreichbar sein. Dies führt hinlänglich dazu, dass arbeitszeitrechtlich Ruhezeit vorliegt und eben keine Arbeitszeit. Zu beachten ist jedoch, dass aufgrund von Individual- oder Kollektivvereinbarung etwas anderes gelten kann. Vergütungsrechtlich sind Pauschalisierungen der Rufbereitschaft ein zulässiges und zugleich übliches Vergütungsmodell. Entscheidend bei der Rufbereitschaft ist die Reaktionszeit zur Arbeitsaufnahme. Diese darf nicht zu eng bemessen sein, sonst handelt es sich um Bereitschaftsdienst statt lediglich um Rufbereitschaft.
Der EuGH hatte Anfang 2019 in den Vorabentscheidungsverfahren Sachverhalte zur arbeitszeitrechtlichen Einordnung der Rufbereitschaft zu beurteilen. Bereits in einer vorherigen Rechtssache (EuGH, Urt. v. 21.2.2018 – C-518/15, AuA 10/18, S. 612) aus dem Jahr 2018 hatte der EuGH eine Grundlinie zur arbeitszeitrechtlichen Einordnung der Rufbereitschaft festgelegt. Demnach sind die inaktiven Phasen innerhalb eines Dienstes der Rufbereitschaft Arbeitszeit, sofern dem betroffenen Arbeitnehmer aufgegeben ist, sich in so kurzer Zeit im Betrieb bzw. an einem Einsatzort einzufinden, dass er sich während der Ruhezeit nicht mehr ernsthaft anderen Tätigkeiten widmen kann (vgl. auch Bayreuther, NZA 2021, S. 745).
Der EuGH erweitert diese Bedingung zur Einordnung der Rufbereitschaft als Arbeitszeit dahingehend, dass zudem die Gestaltungsautonomie des Arbeitnehmers über seine Ruhezeit durch die Rufbereitschaft „objektiv gesehen (und) ganz erheblich beeinträchtigt“ sein müsse (EuGH, Urt. v. 9.3.2021 – C-580/19 sowie C-344/19). Entscheidend ist daher, dass der Arbeitnehmer die inaktive Zeit aufgrund der auferlegten, vom Arbeitgeber veranlassten Einschränkungen nicht mehr wirklich frei gestalten und seinen Interessen nachgehen kann. In welcher Zeitspanne der Arbeitnehmer auf Zuruf an seinem vertraglich bestimmten Einsatzort sein muss, ist demnach nach wie vor das entscheidende Kriterium zur Einordnung der Rufbereitschaft als Ruhezeit oder Arbeitszeit in Form des Bereitschaftsdienstes. Während bei einem Zeitraum von mehreren Stunden bis zum Arbeitsantritt sachgerecht nur von Ruhezeit i. S. d. ArbZG ausgegangen werden kann, insbesondere deshalb, weil dadurch der Arbeitnehmer noch im Wesentlichen seine Freizeit selbst bestimmen kann, ist dies dann nicht mehr der Fall, wenn der Beschäftigte verpflichtet ist, sich in sehr kurzer Zeit am Einsatzort einzufinden. Denn in diesen Fällen wird eine selbstbestimmte Freizeit regelmäßig entfallen, muss der Arbeitnehmer doch damit rechnen, die „freie“ Zeit jederzeit anlässlich des Ruffalls unterbrechen zu müssen.
Der EuGH zieht jedoch noch weitere Prüfungskriterien bei der Beantwortung der Frage der arbeitszeitrechtlichen Einordnung der Rufbereitschaft mit ein. Nach Auffassung des EuGH bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die über eine mögliche Aufnahme der Arbeitstätigkeit entscheiden. Hierzu zählen neben der Zeitvorgabe auch die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen währen der Bereitschaftszeit und ob die auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass diese Einschränkungen die Möglichkeit des Arbeitnehmers, den Zeitraum, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt wird.
So ist in der Beratungspraxis zunächst zu fragen, wie oft der Arbeitnehmer zu einschlägigen Diensten eingeteilt werden soll. Wird ein Beschäftigter nämlich häufig herangezogen oder erstrecken sich diese über einen längeren Zeitraum, sind diese schon per se mit einer besonderen psychischen Belastung verbunden (Bayreuther, NZA 2021, S. 745).
In die Gesamtbetrachtung mit einfließen sollte auch die Abwägung, wie lange die jeweiligen Arbeitseinsätze andauern und in letzter Konsequenz auch, ob die Arbeitsleistung auch im „Mobile Office“ angetreten werden kann. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob ein Arbeitnehmer in Rufbereitschaft bereits durch telefonische Auskünfte seine Arbeitsleistung im Rahmen der Rufbereitschaft erbringen kann oder tatsächlich verpflichtet ist, am vertraglichen Erfüllungsort – meistens im Betrieb – seine Arbeitsleistung zu erbringen hat.
Aus Arbeitgebersicht ist es sicherlich eine Überlegung wert, Arbeitnehmern für den Zeitraum der Rufbereitschaft ein dienstliches Fahrzeug zur Verfügung zu stellen, denn letztlich erfahren inaktive Zeiten dadurch eine gewisse Aufwertung in der Bewertung. Unerheblich sind, nach der Rechtsprechung des EuGH, Umstände, die aus der Sphäre des Arbeitnehmers stammen. Maßgeblich sind vielmehr nur die Eckdaten, die aus den Vorgaben des Arbeitgebers resultieren. So liegt es in der Risikosphäre des Arbeitnehmers, wenn der Wohnort des Arbeitnehmers etwa weiter vom Arbeitsort entfernt ist, als das betrieblich in der Belegschaft üblich ist.
2. Wegezeiten (Reisezeit)
Einen Sonderfall im Arbeitszeitrecht stellen Wege- bzw. Reisezeiten dar. Wegezeiten vom Wohnort des Arbeitnehmers zur Arbeitsstelle stellen grundsätzlich keine Arbeitszeit dar. Anderes könnte gelten, wenn der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Arbeitsleistung Fahrten von der Betriebsstätte zu einer auswärtigen Einsatzstelle unternimmt. Als Dienstreisezeit wird also diejenige Zeit bezeichnet, die der Arbeitnehmer benötigt, um vom Betriebs- oder Wohnort an einen vom Arbeitgeber bestimmten Ort außerhalb der Gemeindegrenzen des Betriebs- oder Wohnortes zu gelangen, an dem die Dienstgeschäfte zu erledigen sind (BAG, AP BGB § 611 Arbeitszeit Nr. 54). Die Zeit wird arbeitszeitschutzrechtlich als Arbeitszeit bewertet, wenn der Arbeitnehmer Arbeitsleistungen zu erbringen hat (BAG, Urt. v. 18.3.2020 – 5 AZR 36/19, AuA 9/20, S. 550). Bislang ging die Rechtsprechung des BAG davon aus, dass für den Fall, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vorschreibe, für die Dienstreise nur öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, ohne weitere Anweisungen zu erteilen, wie die Reisezeit zu nutzen ist, die Dienstreisezeit nicht als Arbeitszeit i. S. d. § 2 Abs. 1 ArbZG angesehen wird (BAG, Urt. v. 31.3.2021 – 5 AZR 292/20, AuA 9/21, S. 29). Dabei soll es nicht darauf ankommen, ob die Fahrt im Betrieb oder in der Wohnung des Arbeitnehmers beginnt.
Durch das BAG-Urteil vom 11.7.2006 kommt es für das Vorliegen arbeitszeitschutzrechtlicher Reisezeit maßgeblich auf den Grad der Beanspruchung des Arbeitnehmers an (BAG, Urt. v. 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, AuA 4/07, S. 246). Demnach liegt im Fall der arbeitgeberseitigen Aufforderung an den Arbeitnehmer, dass dieser zwingend einen Pkw zu nutzen habe, Arbeitszeit i. S. d. ArbZG vor. Ebenso liegt Arbeitszeit i. S. d. ArbZG vor, wenn ein Arbeitnehmer während einer Flugreise Akten bearbeiten muss und somit seiner vertraglichen Arbeitsverpflichtung nachkommt. Anders ist es zu bewerten, wenn der Arbeitnehmer eine Dienstreise in Bahn oder Flugzeug unternimmt und keine weitere Aktivität entfaltet. In diesen Fällen handelt es sich um Ruhezeit i. S. d. ArbZG, da der Schutzzweck des ArbZG nicht gefährdet ist und nach Auffassung des BAG lediglich ein „Freizeitopfer“ vorliegt (BAG v. 11.7.2006, a. a. O.).
Einen ähnlichen Ansatz wie das BAG vertritt auch der EuGH. Der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 10.9.2015 – C-266/14, AuA 2/16, S. 116) lag der Fall zugrunde, dass ein spanisches Sicherheitsunternehmen gegenüber seinen Arbeitnehmern zunächst anordnete, von den jeweiligen Regionalbüros zu den Kunden zu fahren, wobei deren Reisezeit als Arbeitszeit behandelt wurde. Nach Schließung der Regionalbüros durch den Arbeitgeber fuhren die Arbeitnehmer nun von ihren Wohnorten zu den Kunden. Der Arbeitgeber behandelte die Fahrtzeiten nunmehr als Ruhezeit und nicht mehr als Arbeitszeit. Nach Auffassung des EuGH ist Arbeitszeit die Zeit, in welcher der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um in dessen Interesse Leistungen zu erbringen. Demgegenüber fasst der EuGH Ruhezeit als eine Zeit auf, über die der Arbeitnehmer „ohne größere Zwänge selbst verfügen“ und „eigenen Interessen nachgehen“ kann. Der EuGH nimmt somit eine trennscharfe Differenzierung zwischen Fremd- und Eigennützigkeit vor (EuGH v. 10.9.2015, a. a. O.).
Im Ergebnis hat der EuGH folgerichtig entschieden, dass für Arbeitnehmer ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort bereits die Fahrt von Wohnort zum Kunden Arbeitszeit i. S. d. Arbeitszeitrichtlinie ist.
3. Umkleidezeiten
Die arbeitszeitschutzrechtliche Einordnung von Umkleidezeiten richtet sich ebenso nach den Grundsätzen der Beanspruchungstheorie. Das heißt, dass es auch bei der vom Arbeitnehmer aufgewandten Umkleidezeit maßgeblich auf den Grad der Beanspruchung des Arbeitnehmers ankommt.
Ein Urteil des LAG Berlin-Brandenburg hat die Fremdnützigkeit und damit die Qualifizierung als Arbeitszeit i. S. d. ArbZG in dem Fall angenommen, in welchem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zwar freistellt, an welcher örtlichen Begebenheit der Arbeitnehmer seine Dienstuniform an- und ablegt, dem Arbeitnehmer aber am Einsatzort keine zumutbare Umkleidemöglichkeit bereitgestellt wird (LAG Berlin-Brandenburg, 19.11.2019 – 7 Sa 620/19).
Zur Arbeit gehört damit grundsätzlich das Umkleiden für die Arbeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt und das Umkleiden im Betrieb erfolgen muss. Beginnt und endet die Arbeit mit dem Umkleiden, zählen die vom Arbeitnehmer zurückgelegten innerbetrieblichen Wege zur Arbeitszeit, die dadurch veranlasst sind, dass der Arbeitgeber das Umkleiden nicht am Arbeitsplatz ermöglicht, sondern dafür eine vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidestelle einrichtet, die der Arbeitnehmer zwingend benutzen muss. Von der Arbeitszeit umfasst ist ausschließlich die Zeitspanne, die für den einzelnen Arbeitnehmer unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit für das Umkleiden und das Zurücklegen des Weges von der Umkleide- zur Arbeitsstelle erforderlich ist (BAG, Urt. v. 19.9.2012 – 5 AZR 678/11, AuA 7/13, S. 438).
Aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht sei an dieser Stelle noch der Hinweis erlaubt, dass Zeiten für das Zurücklegen selbstbestimmter außerbetrieblicher Wege zur und von der Arbeit auch dann nicht zur täglichen Arbeitszeit i. S. v. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG gehören, wenn die Arbeitnehmer auf diesen Wegen notwendige betriebliche Mittel bei sich führen (BAG v. 22.10.2019 – 1 ABR 11/18).
Rechtsfolgen bei Verstößen gegen das ArbZG sind öffentlich-rechtlich das Erfüllen einer Ordnungswidrigkeit, die mit Bußgeld (§ 22 ArbZG) geahndet wird, ggf. auch die Verwirklichung eines Straftatbestands, § 23 ArbZG, bei vorsätzlicher Gesundheitsgefährdung oder beharrlicher Wiederholung. Nochmals: Grundsätzlich gibt es keine unmittelbaren Auswirkungen eines Verstoßes gegen das ArbZG auf den individualrechtlichen Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers!
Vergütungspflicht des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft
Die Vergütungsgestaltung von Arbeitszeit wird durch die Arbeitsvertragsparteien im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der vertraglichen Bestimmungen vorgenommen. Nur in Ausnahmekonstellationen hat somit das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitschutzrecht Auswirkungen auf die Vergütung eines Arbeitnehmers. Dies ist exemplarisch bei Überschreiten der Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden der Fall. In solchen Konstellationen ergibt sich der Vergütungsanspruch aus § 612 BGB. Die zuvor besprochene Judikatur bezieht sich allein auf das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht. Insofern hat die neueste Judikatur, wenn überhaupt, mittelbaren Einfluss auf das Vergütungsrecht. Demnach lohnt sich eine nähere Betrachtung der verschiedenen vergütungspflichtigen Formen der Arbeitszeit.
1. Bereitschaftsdienst
Während der Bereitschaftsdienstzeit hat sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, damit er jederzeit die Arbeit aufnehmen kann (BAG, Urt. v. 16.3.2004 – 9 AZR 93/03, AuA 11/04, S. 58). Die Rechtsprechung des BAG subsumiert ausdrücklich die Bereitschaftszeit unter die vergütungspflichtige Arbeitszeit. Somit sind auch inaktive Zeiten während des Bereitschaftsdienstes mit dem allgemeinen bzw. einem branchenspezifischen Mindestlohn zu vergüten (Bauer, Gesetzlicher Mindestlohn für Bereitschaftszeiten, ArbRAktuell 2016, S. 304). Dasselbe gilt indes für die Vergütung außer– und überhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Demnach ist der Bereitschaftsdienst ausnahmslos als „Vollarbeit“ i. S. d. § 611 Abs. 1 BGB einzustufen. Sofern anderweitige Abreden zwischen den Arbeitsvertragsparteien nicht getroffen werden, muss die vereinbarte Stundenvergütung für den gesamten Dienst entrichtet werden. Davon umfasst sind auch die Ruhezeiten. Wird im Rahmen der Arbeitszeiterfassung ein Arbeitszeitkonto geführt, ist der Dienst vollständig als Arbeitszeit in dieses Konto auszuweisen.
Trotz dieses Umstands kann eine geringere Vergütung für Bereitschaftsdienst als für Vollarbeit vereinbart werden. So hat das BAG eine Pauschalierung des Bereitschaftsdienstes mit „50 % der regulären Vergütung“ für zulässig erachtet (BAG, Urt. v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06), wobei der gesetzliche Mindestlohn nicht unterschritten werden darf.
2. Rufbereitschaft
Die vergütungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Rufbereitschaft sind zum einen, ob es sich nicht bei näherer Betrachtung um einen anders zu vergütenden verkappten Bereitschaftsdienst handelt. Zum anderen ist problematisch, wie sich die Vergütung für die Rufbereitschaft zusammensetzt.
- Zur Klärung der ersten Frage ist, anlässlich einer aktuellen Entscheidung des BAG zur vergütungsrechtlichen Einordnung des ärztlichen „Hintergrunddienstes“ gem. § 9 TV-Ärzte TdL, auf die bereits durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelten Leitlinien zurückzugreifen (Urt. v. 9.3.2021 – C-580/19 sowie C-344/19). Demnach muss – simplifiziert ausgedrückt – die Gestaltungsautonomie des Arbeitnehmers über seine Ruhezeit durch die Rufbereitschaft „objektiv gesehen (und) ganz erheblich beeinträchtigt“ sein (EuGH, Urt. v. 9.3.2021 – C-580/19 sowie C-344/19). Liegt also unter Zugrundelegung dieser Leitlinien in Wirklichkeit ein Bereitschaftsdienst vor, so ist dieser mithin nach den oben dargestellten Grundsätzen zu vergüten.
- Die zweite Frage im Zusammenhang mit „echter“ Rufbereitschaft ist dagegen nicht vollständig geklärt. Der Arbeitnehmer erbringt nach der Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 25.3.2021 – 6 AZR 264/20, AuA 9/21, S. 29) bei der Rufbereitschaft eine nicht nach dem Arbeitsvertrag geschuldete, sondern eine andere, zusätzliche Leistung. Diese Leistung beinhaltet nach Auffassung des BAG, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber den Aufenthaltsort anzuzeigen und diesen so zu wählen hat, dass er die Arbeit auf Abruf aufnehmen kann. In dem zugrunde liegenden Urteil hat das BAG die Auffassung vertreten, dass es nicht unbillig sei, wenn dem Arbeitnehmer für Zeiten, in denen er keine Arbeitsleistung erbracht habe, keine Arbeitszeit gutgeschrieben werde (BAG v. 25.3.2021, a. a. O.).
Inaktive Zeiten einer Rufbereitschaft stellen somit keine vergütungspflichtige Arbeitszeit dar. Dieser Grundsatz gilt umso mehr, wenn der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer vereinbart hat, dass Zulagen für die tatsächliche Arbeitsleistung im Falle der Heranziehung im Rahmen der Rufbereitschaft gezahlt werden. Im Falle der Ruhezeiten während einer Rufbereitschaft ergeben sich folgerichtig auch keine mindestlohnrechtlichen Fragestellungen (Riechert/Nimmerjahn, Mindestlohngesetz, 2. Aufl. 2017, § 1 Rn. 66). Ein Vergütungsanspruch für inaktive Phasen während der Rufbereitschaft könnte sich allenfalls aus § 612 Abs. 2 BGB ergeben. Dies aber nur dann, wenn sich aufgrund besonderer Umstände eine Vergütungserwartung schon unter Verweis darauf begründen lässt, dass sich der Arbeitnehmer für eine mögliche Arbeitsanforderung bereithält (Bayreuther, NZA 2021, S. 745, 748). Für inaktive Zeiten im Rahmen der Rufbereitschaft können allerdings geringere Sätze festgesetzt werden als für die reguläre Vollarbeit – dies zumindest dann, wenn sie orts- bzw. branchenüblich sind.
Vergütungspflicht von Wege- und Umkleidezeiten
1. Wegezeiten
Grundsätzlich stellen Wegezeiten keine Arbeitszeit i. S. d. ArbZG dar (BAG, Urt. v. 22.10.2019 – 1 ABR 11/18). Sofern Wegezeiten allerdings unter den vergütungsrechtlichen Arbeitsbegriff fallen, ist der Mindestlohn zu beachten. Positive gesetzliche Abweichungen vom MiLoG durch Arbeits- und Tarifvertrag bzgl. der Vergütung sind ohne Weiteres möglich.
2. Dienstreisezeit
Kann der Arbeitnehmer seine (Fahrt-)Zeit frei, d. h. auch mit privaten Tätigkeiten verbringen, sodass er eigenwirtschaftlich und somit gerade nicht in fremdem Interesse tätig werden kann, liegt zwar keine Arbeitszeit i. S. d. ArbZG vor. Der Arbeitnehmer verbringt aber dennoch vergütungspflichtige Arbeitszeit, da die Dienstreise selbst im Synallagma steht. Anders ist der Fall zu beurteilen, wenn der Arbeitnehmer während der Reisezeit zur Arbeit verpflichtet ist. Ordnet der Arbeitgeber bspw. an, Telefonate mit Kunden während der Reise zu führen, liegt neben der vergütungspflichtigen Arbeitszeit auch Arbeitszeit i. S. d. ArbZG vor. Die Telefonate dienen dann nämlich gerade der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses. In einem solchen Fall sind folgerichtig dann auch die jeweiligen Höchstzeiten des ArbZG zu beachten. Entscheidend ist nach der Beanspruchungstheorie aber nach wie vor, ob für den Arbeitnehmer mit der Reise Belastungen einhergehen oder ob der Arbeitnehmer bei der Reise zur Ruhe kommen kann. Denn letztlich richtet sich danach auch die Vergütungspflicht der jeweiligen Tätigkeit des Arbeitnehmers.
3. Umkleidezeiten
Die Vergütung von Umkleidezeiten ist oftmals Bestandteil betrieblicher Auseinandersetzungen der Betriebsparteien.
Ordnet der Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts an, dass Arbeitnehmer eine Arbeitskleidung im Betrieb anzulegen haben, oder ist ein Anlegen der Arbeitskleidung aufgrund rechtlicher Vorschriften bzw. wegen der äußeren Umstände nur im Betrieb möglich, rechnet die hierzu erforderliche Zeit einschließlich etwaiger Wegezeiten (z. B. Abholung der Dienstkleidung und Abgabe an einem betrieblich vorgesehenen Ort) zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. Dasselbe gilt für den Wechsel zur Privatkleidung nach Beendigung der Tätigkeit. Ob die Arbeitskleidung in irgendeiner Weise „auffällig“ ist oder nicht, ist dabei unerheblich (BAG, Urt. v. 12.12.2018 – 5 AZR 124/18, AuA 9/19, S. 554; Bayreuther, NZA 2021, S. 745, 748).
Sofern es dem Arbeitnehmer freisteht, seine Arbeitskleidung auch zu Hause an- und abzulegen, stellt dieser Ankleidevorgang nur dann vergütungspflichtige Arbeitszeit dar, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Betrieb oder am Einsatzort keine Umkleidemöglichkeiten mehr zur Verfügung stellt (LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19.11.2019 – 7 Sa 620/19). Dieser Grundsatz steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Arbeitskleidung „unauffällig“ ist. Sofern die Arbeitskleidung „auffällig“ ist, ist es entscheidend, ob der Arbeitnehmer sich zu Hause umkleiden muss. Bejahendenfalls ist die Umkleidezeit vergütungspflichtig. Steht dem Arbeitnehmer alternativ die Möglichkeit zur Verfügung, sich auch im Betrieb umzuziehen und entscheidet er sich dennoch für die häusliche Alternative, fällt die zum Umziehen benötigte Zeit nicht unter die Vergütungspflicht (BAG, Urt. v. 25.4.2018 – 5 AZR 245/17, AuA 1/19, S. 54; Bayreuther, NZA 2021, S. 745). Die Auffälligkeit der Dienstkleidung steht jedoch nicht im Verhältnis zur Erforderlichkeit der Vergütungspflicht von Wegezeiten.
Die Auffälligkeit einer Dienstkleidung kann verneint werden, wenn sie zu Hause angelegt und – ohne besonders auffällig zu sein – auf dem Weg zur Arbeitsstätte getragen werden kann. Gleiches gilt, wenn es dem Arbeitnehmer gestattet ist, eine an sich besonders auffällige Dienstkleidung außerhalb der Arbeitszeit zu tragen und er sich entscheidet, diese nicht im Betrieb an- und abzulegen. Schließlich dient das Umkleiden außerhalb des Betriebs in der Konsequenz nicht nur einem fremden Bedürfnis. Der Arbeitnehmer muss ja nunmehr keine eigenen Kleidungsstücke auf dem Arbeitsweg einsetzen (BAG v. 25.4.2018, a. a. O.).
Fazit
Die neueren Entscheidungen des EuGH sowie die Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte und des BAG zeigen, dass die Richtung der Rechtsprechung bzgl. der Arbeitszeit konsequent beibehalten wird. Insofern ergeben sich für die betriebliche Praxis nur partiell Neuerungen. Die Rechtsprechung erweist sich als verlässlich. Das sog. CCOO-Urteil des EuGH vom 14.5.2019 (C 55/18, AuA 9/19, S. 548), wonach Arbeitgeber zur Messung und Aufzeichnung der Arbeitszeit der Beschäftigten verpflichtet sind, ist ein Exempel dafür, dass Arbeitgeber dennoch einen stetig wachsenden Bedarf an Beratung im Arbeitszeitrecht haben.
Von maßgeblicher Bedeutung für die Praxis ist es, eine klare vertragliche bzw. tarifvertragliche Regelung zu treffen, um Streitigkeiten zu vermeiden. Umfassende Regelungen bzgl. der Arbeitszeiten und ihrer Vergütung sollten daher immer im Lichte der Unterscheidung zwischen öffentlichem Arbeitsschutzrecht und der zivilrechtlichen Frage der Vergütung für alle Wege-, Reise- und sonstigen Zeiten getroffen werden. Hierbei ergeben sich weitere Problemfelder bei der betriebsverfassungsrechtlichen Auslegung des Arbeitszeitbegriffs i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG.
Dominic Gottier
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Problempunkt
In der Rechtssache C-580/19 befasste sich der EuGH mit einem verbeamteten Feuerwehrmann der Stadt Offenbach am Main, der
Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für
Darlegungs- und Beweislast beim Überstundenprozess
Kommt es bei der Leistung von Überstunden zu Streitigkeiten, ist zumeist auch die tatsächliche
Regelungen zur täglichen Höchstarbeitszeit
Zunächst soll an dieser Stelle der Wortlaut des § 3 ArbZG zum besseren Verständnis noch
Worum geht es?
Dem viel beachteten Beschluss des BAG vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 – hat der Erste Senat zwei Leitsätze entnommen:
„1. Arbeitgeber
Am 4.5.2022 gelang den Tarifvertragsparteien VKA und Marburger Bund eine Einigung für den TV-Ärzte/VKA, am 18.5.2022 folgte ein