Tarifvertrag als Rechtsgrundlage
Gestaltungen zur tariflichen und betrieblichen Arbeitszeit sind Arbeitsbedingungen nach § 1 Abs. 1 TVG, die durch Inhaltsnormen und Betriebsnormen im Tarifvertrag geregelt werden können. Die Tarifvertragsparteien sind nach Art. 9 Abs. 3 GG als Normgeber gegenüber den Betriebsparteien privilegiert, Abweichungen von Tarifnormen über § 4 Abs. 3 TVG zu gestatten. Dies ermöglicht den Tarifvertragsparteien ein Übertragungsrecht u. a. gegenüber Betriebsparteien und Arbeitsvertragsparteien. Bei der Gestaltung von Öffnungsklauseln ist zudem die Sperrwirkung nach § 77 Abs. 2 BetrVG sowie der Tarifvorrang nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG zu beachten. Die Nutzung tarifvertraglicher Öffnungsklauseln setzt voraus, dass der Tarifvertrag samt Öffnungsklausel für den jeweiligen Arbeitgeber anwendbar ist. Verbands-, Haus- oder allgemeinverbindliche Tarifverträge können dies sein. Im Fall einer Tarifkollision nach § 4a TVG ist zu beachten, dass für die Dauer der Verdrängungswirkung die Rechtsgrundlage für Öffnungsklauseln der „Mehrheitstarifvertrag“ ist. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber werden bspw. bei gesetzlichen Öffnungsklauseln wie § 7 Abs. 3 ArbZG berücksichtigt und können Abweichungen vom Gesetz im Geltungsbereich eines Tarifvertrags nutzen.
Stufenskala
Tarifvertragliche Öffnungsklauseln können wie folgt untergliedert werden:
Stufe 1: Öffnungsklausel ohne Erzwingbarkeit
- freiwillige Betriebsvereinbarung
- freiwillige Regelungsabreden und Arbeitsvertrag
- ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien
- Zustimmungsrecht der Tarifvertragsparteien
- Empfehlungen für den Inhalt der Öffnungsklausel
Stufe 2: Öffnungsklauseln mit Erzwingbarkeit
- erzwingbare Betriebsvereinbarung über die Einigungsstelle
- erzwingbare Betriebsvereinbarung über eine tarifliche Schlichtungsstelle
- Öffnungen mit einer einklagbaren Zustimmungspflicht der Tarifvertragsparteien
- zwingende Vorgaben für den Inhalt der Öffnungsklausel
Bedeutung zur Arbeitszeit
Speziell zum Bereich der Arbeitszeit finden sich zahlreiche tarifvertragliche Öffnungsklauseln. Das „Produkt“ Arbeitszeit eignet sich, Tarifverträge attraktiv und flexibel zu gestalten. Die Lage und Verteilung der Arbeitszeit, das tarifliche Arbeitszeitvolumen i. V. m. der entsprechenden tariflichen Vergütung oder die Gestaltung der betrieblichen Nutzungszeit können in einem Tarifvertrag auf die Betriebsebene übertragen werden. Gleitzeitsysteme, Schichtsysteme, Dienstpläne, Vertrauensarbeitszeit oder Flexizeitkonten werden weitreichend betrieblich geregelt. Bei tarifpolitischen Gestaltungsfragen des Arbeitslebens behalten die Tarifvertragsparteien das Ruder in der Hand oder legen einen engen Rahmen fest. Altersteilzeitmodelle, Langzeit- oder Lebensarbeitszeitmodelle, Reduzierung der Arbeitsbelastung älterer Mitarbeiter, Teilzeitmodelle sowie Arbeitszeitreduzierungen mit Vergütungsanpassungen zur Beschäftigungssicherung zählen hierzu. Aktuelles Beispiel ist die Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie 2021, in der es um die Reduzierungsmöglichkeit der Arbeitszeit i. V. m. der Anpassung der Vergütung zur Beschäftigungssicherung ging. Die Eckpunkte für eine freiwillige Betriebsvereinbarung umfassen das Reduzierungsvolumen der Arbeitszeit, die Dauer der Reduzierung sowie den Teilentgeltausgleich.
Rolle und Spielraum des ArbZG
Eine wesentliche Grenze des Gestaltungsspielraums ist das ArbZG. Tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeitgrenzen, Mindestpausen, Ruhezeiten, aber auch die zahlreichen Ausnahmeregelungen werden als bekannt unterstellt. Hervorzuheben sind §§ 7 und 12 ArbZG. Das Gesetz beinhaltet in § 7 ArbZG folgende Öffnungsstruktur, die Abweichungen auf die Betriebsebene zulässt: „in einem Tarifvertrag“, „aufgrund eines Tarifvertrags“ oder „im Geltungsbereich eines Tarifvertrags“.
Aufgrund oder im Geltungsbereich eines Tarifvertrags können die Betriebsparteien abweichende Betriebsvereinbarungen abschließen, womit auch tarifungebundene Arbeitgeber Nutzer tariflicher Öffnungsklauseln sein können.
Dies umfasst u. a. die Reduzierung der Ruhezeiten auf neun Stunden, die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf über zehn Stunden, die Veränderung von Ausgleichszeiträumen oder die Gesamtdauer der Ruhepausen. Speziell im Zusammenhang mit Bereitschaftsmodellen sieht das Gesetz Flexibilisierungsmöglichkeiten vor. Insbesondere die Rufbereitschaft als unterste Belastungsstufe kann bei mobilen Arbeitsmodellen an Attraktivität gewinnen.
Gestaltungsspielraum einer Öffnungsklausel zur Arbeitszeit
Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien ist inhaltlich, zeitlich, räumlich und persönlich sehr weitreichend. In Flächentarifverträgen können für verschiedeneTeil- bzw. Unterbranchen unterschiedliche Öffnungen geregelt werden, sodass auch den Anforderungen einzelner Sektoren innerhalb großer Mischbranchen entsprochen werden kann. Gleiches gilt für Haustarifvertragsparteien, wo sich Differenzierungen bei unterschiedlichen Geschäftsbereichen sowie Standortbesonderheiten ergeben.
Produktionsstandorte, Dienstleistungsstandorte oder die Zentrale der global tätigen deutschen Muttergesellschaft können über eine differenzierte Haustariflandschaft oder wiederum durch Öffnungsklauseln für die jeweiligen Standorte und Betriebe unterschiedliche Arbeitszeiten regeln. So kann bspw. die wöchentliche Arbeitszeit oder die Jahresarbeitszeit im Rahmen von tariflichen Arbeitszeitbändern oder Korridoren mit tariflichen Unter- und Obergrenzen zur weiteren Ausgestaltung auf die Betriebsparteien übertragen werden.
Erzwingbare oder freiwillige Betriebsvereinbarungen
Die Öffnung wird i. d. R. ein Zusammenwirken zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vorsehen. Je mehr in Ansprüche und Rechte von Mitarbeitern eingegriffen wird, findet sich die freiwillige Betriebsvereinbarung als Instrument. Somit öffnet die Gewerkschaft zwar den Tarifvertrag, der Betriebsrat behält jedoch die volle Verhandlungs- und Abschlusskontrolle.
Erzwingbare Betriebsvereinbarungen führen auch zum Durchsetzungsrecht des Betriebsrats; insofern ist Augenmaß geboten, was erzwingbar sein soll oder nicht. Ein Beispiel für einen Beschleunigungseffekt erzwingbarer Betriebsvereinbarungen ist die tarifliche Schnellschlichtung der Metall- und Elektroindustrie.
Die Bindungswirkung einer Öffnungsklausel darf keine Auslegungsfragen aufwerfen. Unsicherheiten über ein „kann“, „soll“, „muss“ oder „darf“ müssen vermieden werden.
Bestimmtheit
§ 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG schließt die zwingende Mitbestimmung der Tatbestände nach § 87 BetrVG nur soweit aus, als eine tarifvertragliche Regelung besteht. Je enger die Tarifvertragsparteien die Öffnung zulassen wollen, desto genauer müssen die Inhalte der Öffnungsklausel definiert werden. Bei Arbeitszeitregelungen wären Zeitkorridore, Ausgleichszeiträume, Ankündigungsfristen, Zeitkonteninhalte, Arbeitstage pro Woche genau zu beschreiben, wenn die Betriebsparteien sich hieran halten sollen. Ansonsten kann das zwingende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats über § 87 BetrVG fortbestehen. Die Bestimmtheit erfordert eine klare Regelung, wenn die Betriebsparteien durch eine Betriebsvereinbarung auch zulasten der Mitarbeiter vom Tarifvertrag abweichen dürfen. So bedarf die Reduzierung des Arbeitszeitvolumens und des Entgelts eine doppelte Öffnung – für die Betriebsvereinbarung selbst und für die Unterschreitung des Tarifniveaus.
Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)
Beschäftigte und Außenseiter
Die Betriebsvereinbarungen der Öffnungsklausel gelten nur für die Beschäftigten nach dem BetrVG. Werden Betriebsvereinbarungen aufgrund eines Tarifvertrags abgeschlossen, sind alle Gewerkschaftsmitglieder erfasst. Strittig kann die Bindungswirkung für Nichtgewerkschaftsmitglieder sein. Bezugnahmeklauseln können hier Klarheit schaffen. Liegen diese nicht vor, ist nach § 88 BetrVG eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die für alle Mitarbeiter des Geltungsbereichs unmittelbar und zwingend wirkt. Die gleiche Wirkung entsteht durch den Spruch einer Einigungs- oder tariflichen Schlichtungsstelle. Die Bindungswirkung für Nichtgewerkschaftsmitglieder sowie das Günstigkeitsprinzip sollten je nach Reichweite des Eingriffs im Einzelfall beachtet werden.
Zuständigkeit auf der Betriebsebene
Der Tarifvertrag kann festlegen, ob der örtliche, der Gesamt- oder der Konzernbetriebsrat zuständig ist. Erfolgt dies nicht, richtet sich die Zuständigkeit nach dem BetrVG. Bei einer ungeregelten Zuständigkeit besteht die Option der Delegation weiter fort. Bei der Arbeitszeit ist grundsätzlich der örtliche Betriebsrat zuständig – der Gesamtbetriebsrat oder der Konzernbetriebsrat nur ausnahmsweise. Für den Fall, dass Betriebsräte nicht mehr vorhanden sind, ist an eine Auffangregelung zu denken, da die Öffnungsklausel nicht mehr nutzbar wäre.
Arbeiten am Samstag
Die Verteilung der Arbeitszeit auf Montag bis Freitag oder auch auf das Wochenende ist ein Dauerkonflikt. Speziell dann, wenn der Samstag an sich bereits als Mehrarbeitstag zu qualifizieren ist. Diese Konflikte wären vermeidbar, da in einigen Branchen zwar tarifvertraglich die Regelarbeitszeit von Montag bis Freitag vorgesehen ist, die Betriebsparteien jedoch dazu ermächtigt sind, den Samstag per Betriebsvereinbarung als Arbeitstag festzulegen. Dies ist in der Metall- und Elektroindustrie, Chemieindustrie, den Sicherheitsdienstleistungen und in der Milchwirtschaft möglich, ohne dass hierzu eine gesonderte Zustimmung der Gewerkschaft oder sogar ein Ergänzungstarifvertrag notwendig wäre. In der Milchwirtschaft findet sich an keiner Stelle ein Verbot von Wochenendarbeit. Dort sind der Montag bis Freitag nur für den Fall als regelmäßige Verteilung vorgesehen, soweit dies betrieblich möglich ist. Zudem sind die Betriebsparteien u. a. ermächtigt, die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit und die Festlegung der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit sowie der Pausen zwischen der Betriebsleitung und dem Betriebsrat zu vereinbaren.
Mobiles Arbeiten und hybride Arbeitsmodelle
Der Einfluss der aktuellen Corona-Lockdowns und die Angebotspflicht zum Homeoffice beschäftigen zahlreiche Arbeitgeber. Viele Unternehmen stellen sich auf die dauerhafte Einführung geordneter Mischmodelle ein. Also einen Wechsel zwischen Arbeiten im und außerhalb des Büros. Wie viel Beschäftigte in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen im Büro, zu Hause oder an einem anderen Ort tätig werden und welches Arbeitszeitmodell zutreffend ist, muss durch die Betriebsparteien geregelt werden (vgl. hierzu ausführlich Stück/Salo mit einem Muster einer entsprechenden Betriebsvereinbarung, AuA 4/21, S. 22 ff.). Theoretisch können die betrieblichen Arbeitszeitmodelle inner- und außerhalb des Betriebs angewendet werden. Tatsächlich dürften sich die Arbeitsabläufe zu Hause oder außerhalb des Betriebs von denen im Betrieb unterscheiden. Zahlreiche Kurzpausen wechseln sich mit kurzen und längeren Arbeitsphasen ab, sodass Unterbrechungen des „Arbeitsflusses“ vorliegen. Pausenregelungen, Beginn und Ende der Arbeits- sowie Ruhezeiten sind hiervon betroffen. Dies kann für Arbeitstage außerhalb des Betriebs durch Festlegung eines ausgedehnteren Arbeitszeitrahmens, etwa zwischen 6 Uhr und 22 Uhr, erleichtert werden. Deutlich schwieriger ist dies bei der Gestaltung von Schicht- und Dienstplänen im Produktionsbereich, wo ein erheblicher Aufwand entsteht, will man flexible Schicht- und Dienstplanwechsel zulassen. Die technischen Optionen für Zeiterfassungssysteme lassen keine besonderen Schwierigkeiten erwarten. Beachtenswert bleiben aber die Aufzeichnungspflichten nach § 16 Abs. 2 ArbZG sowie die zu erwartenden Dokumentationspflichten aufgrund der EuGH-Entscheidung vom 14.5.2019 (vgl. hierzu ausführlich Schütz/Unger-Hellmich, AuA 3/21, S. 18 ff.).
Tarifverträge können speziell für das mobile Arbeiten Öffnungen im ArbZG nutzen. Die Ruhezeiten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ArbZG können um zwei Stunden verkürzt werden. Ebenso wäre überlegenswert, für Mitarbeiter an Arbeitstagen außerhalb des Betriebs Rufbereitschaften zu regeln, die es ermöglichen, die tägliche Arbeitszeit nach dem ArbZG zu verlängern und die Ruhezeiten zu verkürzen. In der Metall- und Elektroindustrie wurde ein Tarifvertrag mobiles Arbeiten abgeschlossen. Dieser umfasst Grundsätze und Vorgaben, die beim Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung beachtet werden müssen. Dort wurde auch die Ruhezeit nach dem ArbZG von elf auf neun Stunden verkürzt und der Samstag als zuschlagsfreier Tag für Vor- und Nachbereitungen festgelegt, wenn der Mitarbeiter hierzu freiwillig bereit ist.
Hier ist der Gesetzgeber gefordert und hat unter Beachtung europarechtlicher Vorgaben den Tarifvertragsparteien und den Betriebsparteien mehr Gestaltungsfreiheit für mobiles Arbeiten einzuräumen.
Fazit
Bei tarifvertraglichen Öffnungsklauseln zur Arbeitszeit sind Ängste über den Verlust tarifvertraglicher Schutzwirkungen unbegründet. Im Gegenteil – tarifvertragliche Öffnungsklauseln zur Arbeitszeit sind wichtige Instrumente, die notwendigen Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, insbesondere um die Öffnungsklauseln des ArbZG und weiterer Gesetze zu nutzen. Damit werden Tarifverträge noch attraktiver und die Betriebsebene erhält Instrumente, die ohne einen Tarifvertrag aktuell nicht möglich wären. Zahlreiche Tarifverträge beinhalten Öffnungsklauseln, die von den Betriebsparteien noch aktiver genutzt werden müssen.
Bernd Pirpamer

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