„Die Regelungen zum Streikrecht in Deutschland sind für die Praxis leider sehr unzureichend“

Wortwechsel
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 Bild: Hurca!/stock.adobe.com
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Vor einigen Jahren war in einer Veröffentlichung einer gewerkschaftsnahen Stiftung zu lesen: Tarifkonflikte eskalierten bei uns häufiger und gleichzeitig sei Deutschland weiterhin ein relativ streikarmes Land. Wie sehen Sie das, vor allem mit Blick auf die Situation heute, 2023?

Schauen wir doch einmal aus einer internationalen Perspektive auf Deutschland: Z.B. im Vergleich mit Ländern aus dem Geo-Raum Asien-Pazifik und Amerika, da ist Deutschland absolut kein streikarmes Land. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2023 gab es hierzulande mehrere große nationale und regionale Streiks. Im Februar 2023 führten Streiks an sieben deutschen Flughäfen zu massiven Flugausfällen und Verspätungen. Danach folgten auch die Bahnstreiks auf nationaler Ebene, der Bahnverkehr für ganz Deutschland wurde am 21.4.2023 stillgelegt.

Da hören wir dann, und gar nicht zu Unrecht, dass das deutsche Arbeitskampfrecht immer unberechenbarer wird. Und daran schließt sich dann ganz natürlich die Forderung an, eine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfes sei sehr notwendig. Es solle gesetzlich ausdrücklich festlegt werden, dass der Arbeitskampf auch eine wirkliche Ausnahme bleiben müsse, etwa nach dem Scheitern eines verbindlichen Schlichtungsverfahrens. Das übrigens könnte auch ein Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie sein. Was mir immer wieder in diesem Zusammenhang auffällt: aus einer Richtung, die sich sonst gerne und oft für immer mehr, immer breiter und tiefer gehende Regulierung ausspricht, aus dieser Richtung hört man zu einer Regulierung des Streikrechts recht wenig, eigentlich gar nichts.

Sind denn die rechtlichen Rahmenbedingungenin Deutschland für das Streikrecht ausreichend? Wir sprechen wohl besser vom rechtlichen, nicht gesetzlichen Rahmen, denn Gesetze zum Arbeitskampf gibt es ja kaum. Und wie beurteilen Sie die Entwicklung der Rechtsprechung in den letzten Jahren hierzu – denn auf die Gerichte kommt es doch maßgeblich an, oder?

Richtig, das Streikrecht in Deutschland ist nicht direkt in Gesetzen geregelt, sondern durch die Rechtsprechung von BAG und BVerfG entwickelt und immer wieder bestätigt worden. Streikrecht ist nach ständiger Rechtsprechung der Kernbereich der kollektiven Koalitionsfreiheit iS.d. Art.9 Abs.3 GG. Allerdings ist die Koalitionsfreiheit bekanntlich nicht schranklos gewährleistet, eine Einschränkung ist zulässig, wenn sie im konkreten Fall zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten ist. Die Regelungen zum Streikrecht in Deutschland sind für die Praxis leider sehr unzureichend.

Die ersten Entscheidungen zum Streikrecht in der Bundesrepublik stammen ja aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, etwa die grundlegende Entscheidung des BAG vom 28.1.1955, wo zunächst einmal bestätigt wurde, dass, Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung) im Allgemeinen unerwünscht, sie aber in bestimmten Grenzen erlaubt und zuzulassen sind. Und unerwünscht sind sie, da mit ihnen volkswirtschaftliche Schäden verbunden sind und sie den sozialen Frieden stören. Das kann man ja gerade in letzter Zeit sehr direkt in den Arbeitskämpfen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr quasi mitfühlen. Nach der Rechtsprechung dürfen die Tarifparteien die legitimen Mittel (Streik und Aussperrung) des Arbeitskampfs einsetzen, um bessere Tarifverträge abzuschließen. Allerdings ist nach der Ansicht des BVerfG ein Streikverbot für Beamte verfassungsgemäß. Es ist also doch alles auch rechtlich eher unübersichtlich.

Immer wieder hört man, maßloses Streiken sei eine Bedrohung für die Volkswirtschaft und führe letztendlich zu höheren Preisen und sogar zum Abbau von Arbeitsplätzen. Was denken Sie über diese Argumentation und gibt es Beispiele aus der Praxis, die solche Aussagen stützen?

Ja, übermäßiges Streiken kann die nationale Wirtschaft beeinträchtigen, dazu können Streiks, ob nun rechtmäßig oder nicht, das Image des Wirtschafsstandorts Deutschland in der internationalen Geschäftswelt verschlechtern. Dazu ein aktuelles Beispiel: Im Jahr 2022 stoppt die Lufthansa-Tochtergesellschaft Eurowings ihre Pläne zur Erweiterung des Flugbetriebs in Deutschland aufgrund der Auswirkungen der Pilotenstreiks, nämlich der massiver Streikschäden. Das Unternehmen hat mitgeteilt, dass die geplante Flottenstärke von 81 Flugzeugen für das Jahr 2023 vorerst um fünf verringert wird. Auch die geplante Schaffung von mindestens 200 zusätzlichen Arbeitsplätzen im Bereich der Piloten und des Kabinenpersonals bei Eurowings in Deutschland wurde im Jahr 2022 gestoppt. Da wurden dann auch Beförderungen nicht vorgenommen oder nur noch befristet eingestellt.

Dazu kommt dann oft in der Praxis, dass die Kunden selbst bei einem Streik bei der Bahn oder einem Streik im Flugverkehr die entstehenden Kosten und Schäden zu tragen haben. Studien aus der Praxis haben auch gezeigt, dass Streiks in Krankenhäusern, Schulen oder im öffentlichen Verkehr erhebliche negative Auswirkungen auf Patienten, Schüler und Pendler haben. Diese negativen Auswirkungen auf Dritte sind sog. technologische Externalitäten, auch externe Effekte genannt, die von den Tarifparteien bei der Entscheidung über einen Arbeitskampf viel zu wenig berücksichtigt werden. Konkret heißt das z.B. für den Dienstleitungssektor, dass Streiks für unbeteiligte Dritte immer spürbarer werden. Die Streikwirkung wird also zum Kollateralschaden, im übertragenen Sinne.

Das Streikrecht ist ein verfassungsmäßiges Recht, das Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften zusteht, um ihre Rechte und Interessen durchzusetzen. Und doch können Streiks auch für diejenigen, die nicht an Streiks beteiligt sind, erhebliche Auswirkungen haben. Gibt es Wege, solche negativen Auswirkungen zu minimieren und dafür zu sorgen, dass Streiks die Öffentlichkeit möglichst gering belasten?

Profitieren Sie vom Expertenwissen renommierter Fachanwält:innen, die Sie über aktuelle Entscheidungen des Arbeitsrechts informieren. Es werden Konsequenzen für die Praxis benannt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

Ganz praktisch gesehen können Unternehmen vor allem ganz allgemein in einem Risikomanagementsystem Notfallpläne für die Fortführung des Betriebs im Fall des Streiks erstellen. Als Beispiel ist es ja im Einzelhandel nicht unüblich, dass Unternehmen einen zweiten Schichtplan als Backup erstellen, um die Personalausfälle zu minimieren. In eine ähnliche Richtung geht, dass im Transportsektor durch die Umleitung von Flügen oder Zugverbindungen oder die Bereitstellung alternativer Transportmittel für die Fahrgäste und Passagiere Ausfallzeiten minimiert werden.

Auf einer höheren Ebene können die Tarifparteien so früh wie möglich transparente Information zur Streikplanung und zum Streikgeschehen veröffentlichen, damit die unbeteiligten Dritten frühzeitig darauf vorbereitet sein können, z. B. einen Dienstreiseplan ändern oder einfach ein anderes Transportmittel nehmen.

Darüber hinaus sollte zumindest im Bereich der Daseinsvorsorge, also vor allem Energieversorgung, Verkehrsleistungen oder auch Gesundheitsversorgung, der Dialog zwischen Gewerkschaften und Unternehmen institutionalisiert und damit aktiv gefördert werden, um schnelle Einigungen über Tarifabschlüsse zu erzielen. Die Einschaltung eines neutralen Mediators kann dazu beitragen, Lösungen zu finden und langwierige Arbeitskonflikte zu vermeiden.

Wenn wir einmal vom verfassungsmäßigen oder allgemein rechtlichen Rahmen des Streikrechts absehen: Sehen Sie auch ethische und moralische Fragen, die bei der Durchführung von Streiks zu berücksichtigen sind? Und wenn ja, welche wären das?

Ja, das ist richtig, vor allem die ethischen Fragen, die mit dem Streik insbesondere im Gesundheitswesen, z.B. Ärztestreik zusammenhängen. Im Gesundheitsbereich sehen wir wie unter einem Brennglas viele der offenen und wichtigen Fragen zum Streikrecht. Grundsätzlich gilt das Streikrecht auch für angestellte Ärzte, soweit es sich gegen den Arbeitgeber richtet, um Rechte durchzusetzen. Der Umfang des ärztlichen Streikrechts wird jedoch durch die Besonderheiten des Arztberufs und des ärztlichen Versorgungsauftrags begrenzt.

In die gleiche Richtung zielt die Frage nach der Rechtfertigung eines Streiks der Erzieher in Kindertagesstätten und ähnlichen Einrichtungen – wie lange und wie oft ist ein Streik dort angemessen? Denn Kinder, die schwächsten und schutzbedürftigsten Mitglieder unserer Gesellschaft, brauchen ständige Betreuung und Fürsorge und die Eltern müssen auch zur Arbeit gehen. Leider wird die ethische und moralische Dimension des Streikrechts oftmals nicht genügend beachtet oder ausgeblendet – und das ist ja fast noch schlimmer.

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Seite 32 bis 33
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