„Jeder Akteur muss sich die Frage nach den ethischen und moralischen Konsequenzen gefallen lassen“

In diesem zweiten Teil zum Streikrecht geben wir Prof. Dr. Johanna Wenckebach die Gelegenheit, auf die Standpunkte von Dr. Jan Tibor Lelley einzugehen. Daher handelt es sich im Wesentlichen um die Fragen aus Teil 1 (AuA 6/23, S.32 f.).

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 Bild: Nuthawut/stock.adobe.com
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Eskalieren Tarifkonflikte in Deutschland häufiger als anderswo, wobei wir gleichzeitig ein relativ streikarmes Land sind?

Wenckebach: Dass in Deutschland im internationalen Vergleich wenig gestreikt wird, ist auch heute noch so – auch wenn das nicht der öffentlichen Wahrnehmung entsprechen mag, wenn es wie im Frühjahr ausnahmsweise so etwas wie einen „Superstreiktag“ gibt, an dem zufällig mehrere Berufsgruppen mit „Systemrelevanz“ gemeinsam in Tarifrunden sind und die mediale Aufmerksamkeit groß ist. Unsere Kollegen vom WSI der Hans-Böckler-Stiftung erstellen für jedes Jahr eine Arbeitskampfbilanz. Und auch wenn 2022 demnach etwas mehr gestreikt wurde als im Vorjahr, das immer noch stark durch die Pandemie beeinflusst war: 2018 sind mehr Arbeitstage wegen Streik ausgefallen als 2022. Da gab es mehrere Tausend Arbeitsniederlegungen mit insgesamt 930.000 Streikenden. Rechnerisch fielen dadurch 674.000 Arbeitstage aus. Damit bewegt sich das Arbeitskampfvolumen in Deutschland im internationalen Vergleich lediglich im unteren Mittelfeld.

Lelley: Ich denke, die „Kollateral-Auswirkungen“ von Streiks werden heute in der Öffentlichkeit viel schärfer wahrgenommen – und vielleicht auch mit weniger Verständnis als früher. Wenn im Jahr 1974 die damals noch existierende Gewerkschaft ÖTV (jetzt ver.di) eine 11%ige Lohn- und Gehaltserhöhung (!) erstreikte, da lief der Streik nur an drei Tagen. Dann kam die Schlichtung. Ein so erfolgreicher Streik – kurz, fokussiert und mit für die Gewerkschaft sehr gutem Ergebnis – ist heute kaum mehr vorstellbar. Und das hat aus meiner Sicht eben viel mit der Wahrnehmung von Arbeitskämpfen durch die unbeteiligten Bürgerinnen und Bürger zu tun. Allein schon die vorbereitende „Streik-Rhetorik“ mit ihrer oft martialischen Wortwahl und aggressiven Formulierungen wirkt auf die Menschen eher abschreckend. Damit wird wenig Verständnis geweckt.

Sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Streikrecht ausreichend? Wie bewerten Sie die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren?

Wenckebach: Ein sehr wichtiges Urteil für das Arbeitskampfrecht war das des BAG zum sog. „Flashmob“, das 2014 durch das BVerfG bestätigt wurde. Hier hatte das BAG noch einmal betont, dass Gewerkschaften frei sind in der Wahl ihrer Arbeitskampfmittel. „Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie die gegensätzlichen Grundrechtspositionen im Einzelnen abzugrenzen sind; es verlangt keine Optimierung der Kampfbedingungen. Umstrittene Arbeitskampfmaßnahmen werden unter dem Gesichtspunkt der Proportionalität überprüft“, hat das BVerfG hierzu aufgeführt. Angesichts der sich stark verändernden Realitäten der Arbeitswelt, die natürlich auch die Möglichkeiten und Bedingungen von Arbeitskämpfen stark beeinflussen, ist das eine gute Grundlage für eine zeitgemäße Durchführung und rechtliche Bewertung von Arbeitskämpfen. Auch Solidaritätsstreiks hat das BAG inzwischen für grundsätzlich zulässig erklärt. Vor dem Hintergrund der Garantien der Europäischen Sozialcharta zu Recht kritisiert wird die Einschränkung der Möglichkeiten politischer Streiks. Und die sog. „Rührei-Theorie“ der Rechtsprechung, nach der eine rechtswidrige Tarifforderung einen gesamten Arbeitskampf rechtswidrig machen soll, legt Gewerkschaften eine überzogene Ordnungsverantwortung auf. Das bringt erhebliche Haftungsrisiken mit sich, die in der Praxis die Verwirklichung des Grundrechts gefährden.

Lelley: Ich bin mir nicht sicher, ob es Haftungsrisiken für Gewerkschaften gibt, die das verfassungsmäßige Streikrecht bzw. dessen Ausübung gefährden. Es gibt ja nur ganz wenige Fälle, mir selber fällt gar keiner ein, wo Gewerkschaften aufgrund von Streikmaßnahmen erfolgreich in eine Haftung genommen worden wären. Das scheint mir eher ein theoretisches Risiko zu sein…

Ist „maßloses Streiken“ eine Bedrohung für die Volkswirtschaft?

Wenckebach: Diese Szenarien, die da gezeichnet werden, gehören zur regelmäßigen Folklore bei Tarifauseinandersetzungen. Keinesfalls neu sind auch die Wünsche der Arbeitgeberseite nach Einschränkung des – wohlgemerkt – verfassungsrechtlich gesicherten Rechtes von Beschäftigten, in Tarifverhandlungen nicht auf ein bloßes Betteln zurückgeworfen zu sein. Mit diesen Forderungen wird fehlender Respekt vor verfassungsmäßigen Arbeitnehmerrechten zum Ausdruck gebracht, die schlicht nicht zur Disposition stehen. Diese Argumentation, aber auch die Wortwahl – etwa wenn davon gesprochen wird, dass Streikende die Bevölkerung „in Geiselhaft“ nehmen würden – versuchen, eine Kriminalisierung zu betreiben, die demoralisierend wirken soll. Bisher hat keine Verbesserung von Arbeitnehmerrechten den jeweils prophezeiten Ruin der Wirtschaft bedeutet.

Lelley: Dem stimme ich zu. Da ist viel Folklore dabei, das gilt für beide Seiten. Das Streikrecht ist ein Menschenrecht, nicht umsonst ist in totalitären Staaten jeder Couleur der Streik entweder politisch geächtet oder ganz verboten. Das rückt solche Staaten dann auch in die Nähe von Sklavenhaltergesellschaften. Und eine schöne und wichtige Eigenschaft unserer sozialen Marktwirtschaft ist ja, dass es mittel- und langfristig immer mehr Menschen wirtschaftlich immer besser geht. Dabei spielt das Recht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Arbeitskämpfe zu führen, sicher eine zentrale Rolle.

Wie kann man die negativen Auswirkungen eines Streiks für Unbeteiligte minimieren und die Öffentlichkeit möglichst wenig belasten?

Wenckebach: Es ist das verfassungsrechtlich abgesicherte Ziel eines Streiks, wirtschaftlichen Schaden zu verursachen, um das Defizit von Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite auszugleichen. In einigen Bereichen ist es tatsächlich unvermeidbar, dass dabei auch Dritte betroffen werden. Das gilt vor allem in Dienstleistungsbereichen. Zuletzt gab es viel Verständnis für Streiks in diesen systemrelevanten Berufen, zumal auf der Hand lag, dass die alltäglichen Beeinträchtigungen im Nahverkehr, bei der Bahn oder in Krankenhäusern – also ganz ohne Streiks – sich auch aus der Überlastung Beschäftigter ergeben und es einen Zusammenhang zwischen der Qualität dieser Dienstleistungen und den Arbeitsbedingungen gibt. Im Übrigen gibt es sog. Notdienstvereinbarungen, mit denen sichergestellt wird, dass keine unverhältnismäßigen Schäden entstehen.

Lelley: Das ist fast die Quadratur des Kreises. Es gibt Branchen, in denen werden Streiks von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, die finden gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Und in anderen Bereichen ist es genau umgekehrt, z.B. im ÖPNV. Da gibt es keine Patentlösung, nur den Appell an alle Beteiligten, sich zurückzunehmen und auf Verhandlungen zu setzen. Streiks sollten immer eine natürlich rechtmäßige, aber dennoch schlechtere Alternative zu erfolgreichen Verhandlungen sein.

Welche ethischen und moralischen Fragen sind bei der Durchführung von Streiks zu berücksichtigen?

Wenckebach: Streik ist ein Grundrecht, das durch andere Grundrechte begrenzt wird. Moral ist für die Abwägungen, um die es hierbei geht, keine geeignete Kategorie. Für mich hört sich diese Frage sehr nach dem Framing an, das Arbeitgeber in Tarifauseinandersetzungen bemühen, um Streikende im wahrsten Sinne des Wortes zu demoralisieren: indem ihre Inanspruchnahme von Rechten als illegitim, überzogen oder schädlich dargestellt wird. Das blendet die wahren Machtverhältnisse aus, die dem Grundrecht und der Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht explizit zugrunde liegen.

Lelley: Das sehe ich etwas anders. Ethik und Moral sind zentrale Kategorien des menschlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Sie stellen sich auch und gerade im Wirtschaftsleben und daher auch beim Streik. Jeder Akteur, auch die Koalitionen, muss sich die Frage nach den ethischen und moralischen Konsequenzen seines Tuns oder Unterlassens gefallen lassen. Immunisierung hilft da nicht weiter.

Prof. Dr. Johanna Wenckebach

Prof. Dr. Johanna Wenckebach
Wissenschaftliche Direktorin, Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Hans-Böckler-Stiftung
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· Artikel im Heft ·

„Jeder Akteur muss sich die Frage nach den ethischen und moralischen Konsequenzen gefallen lassen“
Seite 31
Frei
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