Was war, was kommt?

Round Table zum Arbeitsrecht
Die Legislaturperiode der dritten Großen Koalition in der Bundesrepublik ist zu Ende. In dieser Zeit haben der nationale und der europäische Gesetzgeber im Arbeitsrecht eine Vielzahl an Neuregelungen getroffen. Auch die Rechtsprechung der nationalen und europäischen Gerichte war rege. Zeit also für einen Rück- und einen Ausblick.
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Die Teilnehmer in der Diskussion Bild: © www.michaelreitz.de
Die Teilnehmer in der Diskussion Bild: © www.michaelreitz.de

1 Wo stehen wir?

In den letzten Monaten haben wir in Berlin die heiße Wahlkampfphase direkt mitbekommen. Gerechtigkeit war eines der am meisten verwendeten Schlagworte; arbeitsrechtliche Themen waren diesmal scheinbar weniger gefragt. Das war vor vier Jahren anders. In den letzten vier Jahren hat sich viel für die Praxis geändert. Um den Status quo zu beurteilen und praktische Hinweise zu notwendigen Umsetzungen zu geben, haben wir mit Experten gesprochen, die ausgewiesene Arbeitsrechtler sind und langjährige Erfahrungen in der Beratungspraxis haben:

Prof. Dr. Marion Bernhardt ist seit vielen Jahren Arbeitsrechtspartnerin bei CMS Hasche Sigle. Sie vertritt und berät Unternehmen; ihre Schwerpunkte sind Umstrukturierung und arbeitsrechtliche Compliance einschließlich Arbeitnehmerdatenschutz.

Dr. Rolf Kowanz ist seit über 15 Jahren ausschließlich im Arbeitsrecht tätig und Partner bei Eversheds Sutherland. Er leitet den Bereich Pensions und beschäftigt sich dabei mit Vergütungssystemen und der Altersversorgung. Ein weiterer persönlicher Schwerpunkt liegt beim Fremdpersonaleinsatz.

Dr. Thomas Barthel ist Partner bei Beiten Burkhardt und seit 17 Jahren ausschließlich im Arbeitsrecht aktiv. Er vertritt Unternehmen, insbesondere im kollektiven Arbeitsrecht, bei Restrukturierungen und bei Transaktionen. Er verhandelt Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge und berät in Compliance-Fragen.

2 Deutschlands Zukunft gestalten?

Vor vier Jahren ist die Regierung Merkel III mit Paukenschlägen in die 18. Legislaturperiode gestartet. Vor allem der Juniorpartner der Großen Koalition, die SPD, hatte im Wahlkampf auf Arbeitnehmerthemen gesetzt und nach der Wahl im BMAS unter Andrea Nahles begonnen, die auch im Koalitionsvertrag (Titel: „Deutschlands Zukunft gestalten“) vereinbarten Punkte zügig umzusetzen.

Vor dem Mindestlohn war im Vorfeld heftig gewarnt worden – ähnlich wie vor der Einführung des AGG 2006; hier wie auch dort scheint man mittlerweile relativ gut mit den Regelungen leben zu können. Auch erste höchstrichterliche Rechtsprechung liegt vor und schafft weitere Konturen. Wie bedeutend ist der Mindestlohn heute in der Praxis?

Tatsächlich hat das Mindestlohngesetz (MiLoG), das seit 2015 gilt, nicht so viel Unruhe verursacht, wie im Vorfeld befürchtet. Laut Prof. Dr. Bernhardt waren vor allem Spezialfragen, z. B. zu Praktika und Sondervergütungen aller Art, zu klären. Wichtig in jüngerer Zeit sei eine BAG-Entscheidung zur Gestaltung von arbeitsvertraglichen Ausschlussklauseln (Urt. v. 24.8.2016 – 5 AZR 703/15, AuA 4/17, S. 249) gewesen. Klauseln, nach denen Ansprüche auf den Mindestlohn nicht ausdrücklich ausgenommen sind, sollen aber nach einem Urteil des LAG Nürnberg vom 9.5.2017 (7 Sa 560/16) nicht komplett unwirksam sein; Revision ist zugelassen. Bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen empfiehlt Bernhardt aber, bis auf weiteres die zitierte BAG-Rechtsprechung zu berücksichtigen.

Dienstleister im Facility-Management, die knapp kalkulieren und das Personal flexibel einsetzen müssen, bewegen sich nach den Erfahrungen von Dr. Barthel vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwingend im Grenzbereich zum Mindestlohn. Eines der wichtigsten Themen sei die Frage: Wie lässt sich flexible Arbeit MiLoG-konform gestalten? Es gab, so Barthel, bei seinen Mandanten, nur vier Betriebsprüfungen in Süddeutschland und sonst nichts. Im Grunde sei weniger passiert als gedacht: „Die Erwartungshaltung war eine ganz andere.“

Bei Eversheds Sutherland sind nach Dr. Kowanz auch nur punktuelle Anfragen gekommen, vor allem zur Einbeziehung von Vergütungsbestandteilen, flexibler Arbeitszeit und Dokumentationspflichten. „Der revolutionäre Umsturz blieb aus.“, meint er.

Barthel sagt, die von Betriebsratsseite gelegentlich angestoßene Argumentation einer Per-se-Anhebung aller Lohngruppen bei Unterschreitung des Mindestlohns in der untersten Lohngruppe gebe es nicht. „Die Spreizung wird geringer. Vor allem bei Mindestlohn-nahen Branchen“, ergänzt Bernhardt. Zudem schrumpfe der Spielraum in bestimmten Branchen. Barthel wirft ein, „Arbeitgeber im Dienstleistungsbereich standen der Einführung des Mindestlohns dem Grunde nach durchaus positiv gegenüber, um in fairen Wettbewerb einsteigen zu können. Jetzt geht es um Leistung.“ Kowanz stimmt zu: „Wer den Mindestlohn nicht zahlen kann, muss sowieso sein Geschäftsmodell überdenken; das sehen viele Unternehmen genauso.“ Einig sind sich alle, dass der Niedriglohnsektor nicht generell ein Problem habe. Anpassen müsse man die Beschäftigung von Praktikanten und Flüchtlingen sowie in Randbereichen.

Barthel weist darauf hin, dass es bei den Hinweisen des BMAS falsche Auslegungen des Gesetzes gibt, gerade bei den Flexibilisierungsthemen. „Die Praxis macht’s irgendwie.“ „Dieses Jahr laufen die tariflichen Abweichungen aus“, macht Bernhardt noch abschließend deutlich.

3 Zeitarbeit, Werkverträge und Tarifeinheit

Im Koalitionsvertrag wurde auch vereinbart, Leiharbeit zu begrenzen und Missbrauch bei Werkverträgen zu verhindern. Gutachten wurden geschrieben und diskutiert. Nun hat sich durch die Reformen einiges geändert. Das Thema dürfte viele Unternehmen betreffen. Wie spiegelt sich das in der Beratungspraxis wider?

Kowanz: „Das war sicherlich eine der einschneidensten arbeitsrechtlichen Reformen der letzten Legislaturperiode. Die Praxis beschäftigt die Umsetzung stark. Es müssen Compliance-Prozesse auf Kunden- und Dienstleisterseite eingerichtet werden.“ Bernhardt ergänzt: „Seit dem 1.4.2017 sind die Neuregelungen in Kraft; bei manchen Arbeitgebern ist die Umstellung darauf recht knapp geworden. Zeitarbeit wird hierdurch insgesamt an Bedeutung verlieren. Equal Pay und Höchstüberlassungsdauer sind gerade im Hochqualifizierten-Bereich hinderlich. Außerdem wurden die Abgrenzungsfragen zu Werk- und Dienstverträgen hierdurch gerade nicht gelöst.“

Barthel stimmt zu: „Dieses wichtige Instrument, das uns auch in Krisenzeiten geholfen hat, wurde völlig zurückgedrängt. Mit der Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten kann man leben; das LAG Berlin wollte dies bspw. arbeitsplatzbezogen deuten – da haben wir sogar alle auf einen insoweit milderen Entwurf und den Personenbezug gehofft. Ein Thema sind die ‚3 Monate + 1 Tag‘, die für eine Unterbrechung der Verleihphasen erforderlich sind. Hier gestalten wir gerade Arbeitszeitmodelle.“

„Viel wird sich konsolidieren, wenn die Tarifvertragsparteien ihre Gestaltungsräume nutzen“, hofft Kowanz. „Der ‚TV LeiZ‘ der M+E-Industrie mit einer Öffnung der Höchstüberlassungsdauer für die Betriebsparteien könnte ein Modell für andere Branchen sein. Auch die Chemie kann ein Vorreiter bei sachgerechten Tariflösungen für die Vergütung von Leiharbeitnehmern sein.“ Barthel wirft ein: „Wenn die Gewerkschaften verstehen, dass der Arbeitsplatz am Unternehmen hängt, sollte dies möglich sein.“

Neben Überlassungshöchstdauer und Equal Pay gibt es ja nun auch den Wegfall der „Vorratserlaubnis“ als „Fallschirmlösung“. Wie geht man damit in der Praxis um?

Nach Bernhardt müssen Arbeitgeber natürlich immer Vorsorge treffen. „Nun muss man sehr viel kritischer abwägen, was man durch Werk- und Dienstvertrag gestalten kann, und was nicht.“ Kowanz ergänzt: „Klassisches Werkvertragsrecht gerät immer mehr in einen Graubereich hinein. Für die Zeitarbeitsbranche könnte das vielleicht sogar eine Renaissance bedeuten. Gerade in der IT-Branche werden Kunden und Dienstleister in den regulierten AÜG-Bereich oder in Gemeinschaftsbetriebe gedrängt.“

Barthel weist auf einen anderen Aspekt hin: „In hoch qualifizierten Bereichen ist Zeitarbeit aber auch ein Problem, denn hoch qualifizierte Experten möchten sich nicht ‚verleihen‘ lassen. Und in den anderen Segmenten – Beispiel Pforte – wächst die Verunsicherung trotz sauberer Ausgestaltung als Werk- oder Dienstvertrag.“ „Ich stelle bei Dienst- und Werkverträgen eine sehr viel sensiblere und kritischere Sicht der Unternehmen auf die Umsetzung fest: Die Arbeitsabläufe in den Unternehmen, die Kanalisierung auf einen Ansprechpartner und die organisatorischen Vorkehrungen für die Kontrolle bei der Umsetzung werden verstärkt in den Blick genommen“, meint Bernhardt. „Das Bewusstsein dafür ist geschärft worden.“ In diese Kerbe schlägt auch Kowanz: „Die bekannten Abgrenzungskriterien entsprechen nicht mehr der Praxis. Agile Teams und Strukturen – dabei muss man auch Einfluss in den Arbeitsprozess nehmen können, ohne sofort dem Risiko ungewollter Zeitarbeit ausgesetzt zu sein. Eine klassische werkvertragliche Lösung mit Leistungsverzeichnis lässt sich hier nur schwer umsetzen. Eine Bereichsausnahme für die IT-Branche ist nötig, gerade weil diese Projekte ‚leben‘.“

Stichwort Streikrecht: Nach § 11 Abs. 5 AÜG darf der Entleiher Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Barthel meint, dass dadurch faktisch eine – mittelbare – Streikteilnahme angeordnet wurde. „Das ist eine ganz starke Einschränkung der Arbeitgeberseite. Durch alle Gesetze von Frau Nahles zieht sich wie ein roter Faden, dass die Gewerkschaften gestärkt werden sollen.“

Es ist ja auch das Tarifeinheitsgesetz seit 2015 in Kraft und zwischenzeitlich sogar vom BVerfG als überwiegend verfassungsmäßig angesehen. Gibt es Auswirkungen in der Beratungspraxis? Bernhardt: „Wir warten ab, was anlässlich der Aufgaben, die das BVerfG dem Gesetzgeber noch mit auf den Weg gegeben hat, noch geändert wird.“ Laut Kowanz versuchen sich die Unternehmen momentan zu positionieren und Ansprechpartner zu finden. Und Barthel weist darauf hin, dass es natürlich stark von der Branche abhängt. „Bei der Bahn oder im Gesundheitsbereich ist das sicherlich wichtig. Das gesetzgeberische Ziel ist nachvollziehbar.“

4 Genderthemen

Kennzeichnend für die letzten Jahre war ja auch, dass das BMFSFJ sich immer wieder zu arbeitsrechtlichen Themen geäußert hat. Als Beispiel sei das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst genannt, das 2015 beschlossen wurde. „Die Quote wirkt!“, meint das BMFSFJ. Was ist außerhalb der politischen Debatte in der Praxis davon zu halten? Es gibt Vorgaben, Auskunftspflichten, Zielgrößen etc.

Kowanz: „Das politische Ziel – Quote und Equal Pay –hätte man auch durchregulieren können; hier wurden glücklicherweise meist nur Apelle und Sollvorschriften erlassen.“ Stichwort: „Die ‚freiwillige Verpflichtung‘ bei der Festlegung einer Zielgröße zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen.“ Barthel: „Natürlich müssen gleiches Entgelt und gleiche Chancen selbstverständlich sein. Aber das alles liegt eigentlich an anderen Dingen. Eine Zwangsquote nur um der Quote willen, ist sehr plakativ. Es wird 0,00 bringen.“

„Aber immerhin“, wendet Kowanz ein, „man nimmt das Thema auf Arbeitgeberseite ernst und es wird Teil des Employer Brandings. Kein gutes Unternehmen kann es sich erlauben, 50 % der Bevölkerung einfach auszuschließen.“ Barthel stimmt zu: „Im Arbeitsrecht ist der Anteil an hoch qualifizierten Frauen am Markt derzeit deutlich höher. Es ist auch ein Wandel eingetreten. Eigentlich hätte aber bereits das AGG schon das Bewusstsein schärfen müssen.“

Nun kommt auch das Entgelttransparenzgesetz; darauf muss sich die Praxis konkreter einstellen. Wie hoch die sog. Entgeltlücke – der Gap – ist, ist unklar. Was ist der Rat der Experten, auf was muss man sich einstellen?

Bernhardt meint: „Arbeitgeber werden damit Aufwand haben. Die Betriebsräte werden das Thema beflügeln. Das Gesetz ist schwierig gefasst. Ab 2018 kann ein Auskunftsanspruch geltend gemacht werden. Für tarifgebundene oder -anwendende Unternehmen gibt es deutliche Privilegierungen. Ein interessantes Problem wird in diesem Zusammenhang entstehen, wenn außertarifliche Mitarbeiter ein Auskunftsersuchen stellen.“

Ein weiteres Problem sieht Barthel: „Was ist der ‚statistische Median‘? Das ist nicht der Durchschnitt! Warum man diese statistische Größe genommen hat – mit null Aussagekraft – ist mir schleierhaft. Hier wird ggf. eine Diskriminierung suggeriert, die nicht da ist, und unnötig Unruhe in die Betriebe gebracht.“

„Vorbereitend kann man die Entgeltdaten aufbereiten und diskriminierungsfreie Begründungen erstellen. Man muss auch überlegen, was jeweils die Vergleichsgruppe ist“, empfiehlt Bernhardt.

Kowanz ergänzt: „Bis Januar 2018 ist einiges zu tun, bspw. bei den betrieblichen Prüfungsverfahren. Man ist gut beraten, wenn man jetzt schon eine Bestandsaufnahme macht. Die Entgeltreglungen bei Neueinstellungen und Gehaltsanpassungen sind sauber zu dokumentieren. Die Auskunftsansprüche werden recht leicht durchgesetzt werden können. Saubere Dokumentation und Transparenz bei Entgeltregelungen werden zum Wettbewerbsvorteil beim Kampf um die ‚besten Köpfe‘.“

„Das Gesetz wird vor allem für schnell wachsende Unternehmen ein Problem, die gerade keine Tarifbindung haben (wollen), wo hunderte von Arbeitsplätzen in kurzer Zeit entstehen“, so Bernhardt. Immerhin berücksichtige § 12 Abs. 2 Nr. 2 EntgTranspG regionale Unterschiede.

Beim Mutterschutz hat sich auch etwas geändert. Bernhardt erklärt: „Am 30. Mai sind ausgeweitete Schutztatbestände in Kraft getreten. In der Praxis relevant werden ab 1.1.2018 vor allem Veränderungen bei Nacht-, Mehr-, Sonn-, Feiertags- und Taktarbeit sein sowie die mit der Gefährdungsbeurteilung erhöhten Dokumentationspflichten. Bußgeldvorschriften treten erst ab 2019 in Kraft, damit sich die Betriebe darauf einstellen können.“ Die Ausweitung des Kündigungsschutzes wird nach Bernhardt aber sicherlich Rechtsfragen aufwerfen; Beispiel: „Was zählt alles schon zur Kündigungsvorbereitung?“ Im Zweifel sollten sich Arbeitgeber restriktiv verhalten. Kowanz: „Das ist aber bei Kündigungen von Schwangeren auch heute schon vergleichbar.“ Barthel wirft noch ein: „Betriebsräte machen die Gefährdungsbeurteilung in letzter Zeit zunehmend zu ihrem Steckenpferd. Hier gibt es nun einen weiteren Baustein. Die Neuregelung ist dabei aber nachvollziehbar.“

5 Was wird kommen?

„Fundamental Neues wird eine gesetzliche Novelle der Arbeitszeit gar nicht bringen können, da europäisches Recht (die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG) den Rahmen vorgibt. Wünschenswert wäre, dass die hier noch bestehenden Spielräume in der nächsten Legislaturperiode genutzt werden“, appelliert Bernhardt.

Die Wahlprogramme der Parteien sehen Verschiedenes vor: So wollen CDU/CSU die gegebenen Spielräume nutzen, die SPD will ein Wahlarbeitszeitgesetz, die Linke die Wochenarbeitszeit auf maximal 40 Stunden reduzieren, die FDP das ArbZG flexibilisieren und die Grünen eine flexible Vollzeit zwischen 30 und 40 Wochenstunden.

Ein Anspruch auf Rückkehr aus der Teil- in die Vollzeit ist im BMAS vorerst gescheitert; fast alle Parteien haben dies allerdings in ihrem Programm. Dagegen wurde das Bundesteilhabegesetz noch in der 18. Legislaturperiode erlassen und tritt nach und nach in Kraft. Bernhardt: „§ 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX betrifft die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung bei Kündigungen. Sehr schade, dass das Gesetz nun zwei neue Fragen aufwirft: Wie lang ist ‚unverzüglich‘ und gibt es eine Reihenfolge für die Einbeziehung der beteiligten Gremien; schließlich gibt es ja auch noch Integrationsamt und Betriebsrat?“ Bei der ersten Frage sieht sie es wie bei § 102 Abs. 2 BetrVG: eine Woche, bei der zweiten sollte die Schwerbehindertenvertretung gleich zu Beginn parallel mit dem Integrationsamt und ggf. Betriebsrat angehört werden. Auch Barthel empfiehlt gleichzeitige Anhörungen.

Ein weiteres wichtiges Thema – auch gesellschaftspolitisch – ist die Stärkung der Betriebsrenten. Norbert Blüms „denn eins ist sicher: Die Rente“ trifft so heute nicht mehr zu. Der Gesetzgeber hat nun das Betriebsrentenstärkungsgesetz beschlossen. Was bedeutet das für die Praxis?

Kowanz: „Auch hier spielen die Tarifvertragsparteien wieder die zentrale Rolle. Tarifliche Lösungen werden als eigenes ‚Tarifpartnermodell‘ neben die klassische bAV gestellt. Neu ist die reine Beitragszusage ohne Garantie-/Mindestleistung – und damit kein Haftungsrisiko für den Arbeitgeber. Diese Einführung ist aus rentenrechtlicher Sicht eine Revolution, aber mit dem Wermutstropfen, dass dies nur über die Tarifvertragsparteien implementiert werden kann. Das damit noch komplexere System der bAV in Deutschland einem ausländischen Arbeitgeber verständlich zu machen, ist äußerst schwierig.“

Nochmal für unsere Leser ganz klar gemacht: Die neu eingeführte reine Beitragszusage ist kein neuer Durchführungsweg der bAV , sondern ein Instrument, um die mit einer Versorgungszusage verbundene Haftung für den Arbeitgeber zu begrenzen. Kowanz: „Genau. ‚Pay and forget‘ ist die schöne englische Bezeichnung dafür.“ Barthel: „Man darf allerdings die Hinweispflichten nicht aus den Augen lassen.“

Ein weiteres Hemmnis zur erfolgreichen Einführung einer bAV im Unternehmen ist laut Kowanz weggefallen: Wer muss sich zur bAV äußern? Ein Opt-out-Modell kann in den tariflichen Lösungen vereinbart werden; d. h., die Arbeitnehmer müssen sich melden, wenn sie kein Entgelt umwandeln möchten. Entgeltumwandlung wird seiner Meinung nach künftig teurer für Unternehmen; Arbeitgeber müssen sich ab 2019 bei neuen Vereinbarungen mit einem Zuschuss beteiligen. „Das neue Tarifpartnermodell kann aber eine sehr attraktive Alternative zu den bisherigen Lösungen der Altersversorgung sein. Auch diejenigen, die nicht tarifgebunden sind, sollten wachsam sein und schauen, welche Angebote es gibt, die sie für die Altersversorgung ihrer Mitarbeiter übernehmen können.“

6 Dauerbrenner Datenschutz

Die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist bereits seit 2016 in Kraft und muss ab dem 25.5.2018 umgesetzt werden. Wie vorbereitet ist die Praxis hierauf?

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Bernhardt: „Wir sind schon seit Monaten damit beschäftigt, die Unternehmen darauf vorzubereiten. Datenflüsse müssen erhoben, Betriebsvereinbarungen angepasst, Einwilligungserklärungen geprüft werden. Durch das Anpassungs- und Umsetzungsgesetz kennen wir die neue Rechtslage. Die rein arbeitsrechtlichen Änderungen sind im Vergleich zur bisherigen Rechtslage überschaubar.“

Laut Barthel haben aber alle eine erhebliche Sorge vor den neuen Bußgeldhöhen. „Diese sind aberwitzig gestiegen: 20 Mio. Euro oder bis zu 2 bzw. 4 % des weltweiten Jahresumsatzes! Auch die Freiwilligkeit einer Einwilligung bleibt unklar.“

Laut Kowanz wird auch auf diesem Gebiet die Regelungsmacht der Kollektivparteien gestärkt – hier vor allem der Betriebsparteien mit den Betriebsvereinbarungen. Bei kritischen Themen, wie E-Mail-Kontrollen oder Videoüberwachung, wird nach Art. 88 Abs. 1 DSGVO die Bedeutung von Betriebsvereinbarungen als Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung zunehmen. „Konkret am Missbrauchsfall lässt sich dafür auch bei den Betriebsräten Verständnis herstellen. Oft erreicht man die Lösungen aber erst, wenn es einmal schiefgelaufen ist.“

Bernhardt: „Die gesetzlichen Neuerungen ändern an der bisherigen Rechtslage im Wesentlichen nichts. Es ist sauber zwischen Datenschutz- und Betriebsverfassungsrecht zu unterscheiden. Notfalls muss man in die Einigungsstelle.“

Sie weist darauf hin, dass das BAG Videoüberwachung und deren Verwertbarkeit in jüngeren Entscheidungen als zulässig und verhältnismäßig angesehen hat. „Und es ist schade, dass der Gesetzgeber die Chance vertan hat, den Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt gerecht zu werden.“ Die Konzerndatenverarbeitung ist laut Kowanz ein größeres Problem in der Praxis. „Hier tritt leider keine Verbesserung zum Staus quo ein.“

7 Wichtige Rechtsprechung

In dem Bereich sind auch seitens der Rechtsprechung die jüngsten Entscheidungen des EGMR zur Überwachung von betrieblichen Kommunikationsmitteln bei verbotener Privatnutzung (Entscheidung v. 5.9.2017 – 61496/08, Barbulescu) oder des BAG zum Facebook-Auftritt des Arbeitgebers (Beschl. v. 13.12.2016 – 1 ABR 7/15, AuA 6/17, S. 374) zu nennen. Bernhardt: „In Letzterer war der Betrieb der Seite nicht mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, sondern nur die Einrichtung der Kommentarfunktion.“

Weitere wichtige Rechtsprechung der letzten Jahre erging u. a. zum MitbestG, zur SOKA-BAU, zum Mindestlohn, zum AGG, zu AGBs etc. Was war in der Praxis besonders von Bedeutung?

Bernhardt: „Was natürlich für Aufruhr gesorgt hat, sind die Kopftuch-Entscheidungen. Arbeitgebern kann man nach diesen beiden Urteilen (EuGH, v. 14.3.2017 – C-157/15 und C-188/15) nur zur Neutralität raten und dass ansonsten besondere Gründe für ein Tragen vorliegen müssen.“

Kowanz weist darauf hin, dass man ebenfalls die Tendenz der Rechtsprechung beobachten muss, auch Geschäftsführer in den Kündigungsschutz mit hineinzunehmen und ihnen den Weg zu den Arbeitsgerichten zu öffnen. „Es wird abzuwarten sein, ob § 14 KSchG weiter so ausgelegt wird, dass die Organbestellung ausreicht, um Fremdgeschäftsführer vom Kündigungsschutz auszunehmen.“

Barthel: „Wir haben zurzeit deutschlandweit abweichende Instanzrechtsprechung zur Mitbestimmung wegen Vorliegens einer technischen Überwachungseinrichtung beim Führen von Excel-Listen zu verschiedenen Themen. Das in der Praxis derzeit weitere große Thema sind Bezugnahmeklauseln bei Betriebsübergängen (EuGH, Urt. v. 27.4.2017 – C-680/15, C-681/15, AuA 9/217, S.548).“

„Bei überörtlichen Versetzungsklauseln kann der Arbeitgeber per einseitiger Weisung – auch wenn diese unbillig ist – handeln“, informiert Bernhardt. „Hier hat der 10. Senat des BAG nun beim 5. Senat angefragt, ob die Rechtsprechung dahingehend geändert wird, dass unbilligen Weisungen nicht mehr gefolgt werden muss (Anm. d. Red.: Der 5. Senat hat mit Beschl. v. 14.9.2017 – 5 AS 7/17 darin eingewilligt). Die Prüfungsentscheidung zum billigen Ermessen sollten Arbeitgeber jedenfalls sorgfältig dokumentieren.“

8 Ausblick

Zur Arbeitszeit hatten wir schon einen Ausblick auf die Parteiprogramme gegeben, ebenso auf die Rückkehr aus der Teilzeit in die Vollzeit (SPD, Grüne und Linke dafür, CDU/CSU für befristete Teilzeit). Alle sind sich einig, dass man Mitarbeitern zukünftig wohl größere Flexibilität wird einräumen müssen. Das betrifft nicht nur Frauen, sondern ist allgemein für das Employer Branding sinnvoll. Für Arbeitgeber wird es dadurch natürlich schwieriger.

Bernhardt: „Ein Diskussionspunkt in Unternehmen ist, dass nicht in allen Bereichen Flexibilität bei Arbeitszeit und -ort geboten werden kann. Auch dort, etwa in der Produktion, müssen aber Modelle für die Arbeitsmotivation und -zufriedenheit entwickelt werden.“ „In der Gesundheitsbranche – mit 24/7-Schichtmodell – ist das bereits länger ein Thema“, bemerkt Barthel. „Es ist nicht alles so leicht umzusetzen.“ Kowanz: „Die Work-Life-Balance wird jedenfalls für viele Mitarbeiter – quer durch alle Branchen – immer wichtiger.“

Bei den Befristungen ist vor allem die sachgrundlose Befristung in der Diskussion. Die SPD, Grüne und Linke wollen diese abschaffen, CDU/CSU offenkundigen Missbrauch verhindern, die FDP nichts beschränken. Barthel: „Bei der kalendermäßigen Befristung weiß man von vornherein, woran man ist. Bei einer Zweckbefristung ist das viel unsicherer, wenn man gemäß der gesetzlichen Konzeption erst zwei Wochen vor Zweckerreichung vom Ende des Arbeitsverhältnisses erfährt.“ „Das ist ein klares Wahlkampfthema“, meint Bernhardt. „Es ist ein Paradoxon, dass man feststellt, dass sachgrundlose Befristungen zunehmen – es wird zum Standard – und auf der anderen Seite reden wir über Employer Branding“, so Kowanz. „Im War of Talents muss man das differenziert sehen.“

In puncto Zeitarbeit gibt es in den Parteiprogrammen auch einige Aussagen: CDU/CSU wollen nichts ändern, SPD und Grüne wollen Equal Pay ab dem ersten Tag, die Linke will Zeitarbeit abschaffen, die FDP sie entbürokratisieren, die AFD fordert auch hier eine Obergrenze, und zwar von 15 %.

Kowanz: „Es gibt mittlerweile wieder knapp eine Million Zeitarbeitnehmer. Es wäre auch ein Aberwitz, das AÜG nach all den Diskussionen – Rollen vorwärts und rückwärts – nun erneut zu ändern.“

9 Fazit

Bernhardt: „Um einen konkreten Ausblick zu geben – zunächst werden sich die Unternehmen 2018 mit den Betriebsratswahlen bis Mai beschäftigen müssen. Digitalisierungsthemen werden zunehmen, Compliance wird stärker implementiert werden, bspw. in Bezug auf Themen der Personalrats- bzw. Betriebsratsvergütung.“

„Künftig werden daneben der War of Talents – Wettbewerbsrecht und Abwerbung im Arbeitsverhältnis – und die Flexibilisierung – Auflösung von bestehenden Strukturen, agile Teams etc. – eine große Herausforderung sein“, meint Kowanz. „Mein Wunsch: Mitbestimmung des Betriebsrats bei Einführung technischer Überwachungseinrichtungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) ist in dieser Form so nicht mehr zeitgemäß. Man denke nur an Software-Updates.“

Die Ausgestaltung der DSGVO, der neue § 26 BDSG – Stichwort Freiwilligkeit – und (Ausweich-)Strategien bei der Arbeitnehmerüberlassung – Gemeinschaftsbetrieb, 3 Monate + 1 Tag, Arbeitszeitkonten etc. – werden laut Barthel besonders zu beachten sein. „Wo einiges passieren wird – und die Vorreiter hat man beim BAG z. B. mit dem Urteil vom 18.1.2017 (7 AZR 224/15, AuA 8/17, S. 487) gesehen – ist die Definition von Arbeitszeit. Hier erwarte ich, dass einiges in der Rechtsprechung passiert. Hier müsste der Gesetzgeber schneller sein und das Thema der modernen Welt anpassen.“

So schließt die Runde. Wie wir gesehen haben, hat sich in den letzten vier Jahren viel getan. Das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahl wird zeigen, wohin – auch im Arbeitsrecht – die Reise geht.

Redaktion (allg.)

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· Artikel im Heft ·

Was war, was kommt?
Seite 568 bis 573
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