Die Zeiten berechenbarer Absatzmärkte, die man planmäßig steuern und abschöpfen konnte, sind vorbei. Der digitale Umbruch, unerwartete Ereignisse und permanente Vorläufigkeit fegen fast alle vertrauten Spielregeln weg. Zukunftsbilder sind ein Ausweg aus diesem Dilemma.
Dafür können wir aus den Wirtschaftsannalen einiges lernen. So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Im Gegenteil: Die Alteingesessenen versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten, statt die Sache ganz und gar neu anzugehen. Und das ist fast überall so. Die Glühbirne wurde nicht von einem Kerzenhersteller, das Auto nicht von einem Kutschenbauer und das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank erfunden.
Wieso das passieren kann? Der etablierte Anbieter ist Experte für eine Technologie, sagen wir Segelschiffe. In seinem Unternehmen arbeiten lauter Segelschiffbauexperten, jedoch kein einziges Talent für den Antrieb mit Dampf. Wird dieser Anbieter nun angegriffen, verstärkt er seine Anstrengungen in seiner Kernkompetenz, wird also mehr vom Alten noch besser machen, weil es das Einzige ist, was er kann.Zudem wird er die Stärken des Neuen herunterspielen, weil er sie selbst nicht hat – oder, schlimmer noch, weil er sie nicht einmal als solche erkennt. Ex-Siemens-CEO Joe Kaeser hat Elon Musk einst als Kiffer bezeichnet, der von Peterchens Mondfahrt träume. Doch siehe da: Längst führt Musks Firma SpaceX kommerzielle Flüge ins Weltall durch. Die dazu benötigten Trägerraketen kommen heil zur Erde zurück und sind wiederverwendbar, etwas, das nicht einmal der NASA gelang.
Die Honigtöpfe der Zukunft
Die neuen Player der Wirtschaft begeben sich erst gar nicht auf Aufholjagd. Sie versuchen auch nicht, alte Technologien aufzupeppen. Sie überspringen sie einfach. Herkömmliche Branchengesetze sind ihnen komplett egal. Gewohntes wird radikal infrage gestellt. Unbekümmert kreieren sie die Dinge völlig anders und neu. Dabei entstehen Innovationen, die die Welt so umfassend verändern wie niemals zuvor. Mit Nischengespür ergreifen sie jede Chance, die sich durch die voranschreitende Digitalisierung ergibt. So haben sie längst eine Parallelwelt erschaffen, die sich der Old Economy, wenn überhaupt, höchstens ansatzweise erschließt.
Der digitale Umbruch fegt fast alle vertrauten Spielregeln hinweg. Unerwartete Ereignisse lauernan jeder Ecke. Permanente Vorläufigkeit ist die neue Normalität. „Steuerung und Regelung sind gebunden an Stabilität, an die Vorhersagbarkeit zukünftiger Entwicklungen“, schrieb der viel zu früh verstorbene Systemforscher Peter Kruse bereits vor einer Dekade, und auch: „Für die Zukunft wird offenbar eine nächste Stufe der organisatorischen Intelligenz erforderlich: die Bildung von horizontalen, hierarchie- und bereichsübergreifenden Netzwerken, in denen Einzelne und Teams in freier Dynamik miteinander kooperieren.“ Wer die Zukunft tatsächlich erreichen will, kann sich ein Zögern in diesem Kontext nicht länger leisten.
Allem voran: die Zukunft verstehen
Nur der, der die Trends der Zukunft versteht und sich mit wachsamem Optimismus zukunftsfit macht, schafft es ins Übermorgen. Natürlich kennt niemand die Zukunft. Doch wir können versuchen, ihr die Ungewissheit zu nehmen, indem wir Hypothesen erstellen für eine Zeit, die noch nicht da ist. So haben Futurologen und Zukunftsforscher mithilfe wissenschaftlicher Methoden Szenarien für eine Vielzahl von Technologien und Industrien entwickelt.
Solche Szenarien sind keine Prognosen, sondern spekulative Zukunftsbilder, die zum Nachdenken anregen sollen. Indem man sich damit befasst, springt man aus der Filterblase der eigenen Wahrnehmung und bleibt kontinuierlich an den Trendthemen. Jährliche Strategiemeetings reichen längst nicht mehr aus. Dreimonatige Updates sind das Minimum, damit das Neue im gesamten Unternehmen rasch Fuß fassen kann.
Trendanalysen, Online-Recherchen, Insights aus fortschrittlichen anderen Branchen, Gespräche mit Zukunftsexperten und denen, die neue Technologien in die Welt bringen, bilden die Grundlage für die Vorausschau. Wen Sie nicht befragen: Ihre Kunden. Diese können zwar sagen, was ihnen heute fehlt, aber nicht, was sie in bspw. zehn Jahren wollen werden. Sie sind, genauso wie die meisten Führungskräfte, keine Experten für Zukunftstechnologien und können deshalb keine Prognosen abgeben.
Zukunftsbilder in zehn Schritten
Wer die Zukunft erreichen will, muss ein Bild davon haben, wer er in Zukunft sein will und was er dort tut. Doch viele Unternehmen plagt kognitive Zukunftskurzsichtigkeit. Der Erfolg von gestern sagt nämlich rein gar nichts über den Erfolg von morgen. Die Suche nach zukünftigen Wachstumsfeldern muss also sehr frühzeitig beginnen. Ein Zukunftszielbild ermöglicht fundierte Einsichten in weit vorausliegende Entwicklungen im Umfeld und Geschäftszweck des Unternehmens.
Die Verantwortlichen bekommen auf dieser Basis ein feines Gefühl für Chancen und Risiken, können rechtzeitig Anpassungen vornehmen, mit Bedacht Weichen stellen und müssen seltener auf unerwartete Ereignisse reagieren. Stehen Entscheidungen an, können sie auf „Vorgedachtes“ zurückgreifen sowie schneller und umsichtiger handeln.
Um dies in Gang zu bringen, empfehle ich folgendes Zehn-Schritte-Programm:
1. Eine Future Taskforce zusammenstellen
Stellen Sie eine Future Taskforce zusammen. Diese ist crossfunktional, interhierarchisch, genderübergreifend, interkulturell und sowohl mit erfahrenen als auch mit jungen Leuten besetzt. Am besten involvieren Sie im Vorfeld einen externen Profi, etwa einen Futurologen, der die maßgeblichen Trends mit den Teilnehmern diskutiert und die jeweiligen Szenarien mitentwickelt. Die Erfahrung zeigt, dass firmeninterne Teilnehmer unerwünschte Aspekte womöglich verharmlosen oder negieren, die erwünschten hingegen übertrieben optimistisch darstellen.
2. Die Ausgangsfrage formulieren
Gleich zu Beginn wird eine Ausgangsfrage formuliert, etwa so: „In welcher Arbeits- und Lebenswelt werden wir uns im Zukunftsjahr X befinden?“ Noch zielführender ist eine Konkretisierung. Bei einem Bauträger klingt das z.B. so: „Wie sieht die Lebenssituation Wohnen mit Blick auf Digitalisierung und Klimaaspekte in 20 Jahren in Berlin aus und welche Einflüsse werden auf Bauträger, Hausverwaltungen und sonstige Teilnehmer am Immobilienmarkt wirken?“
3. Die Zielzeitachse bestimmen
Die zu wählende Zeitachse ist je nach Branche verschieden. Die kurzlebige Modebranche unterliegt ganz anderen Zeitzyklen als die langfristig orientierte Bauwirtschaft. In der Regel ist ein Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren sinnvoll.
4. Die maßgeblichen Trends erforschen
Für diesen Schritt braucht es ausreichend Zeit und eine notwendige Menge an Vorlauf. Hierbei sind besonders die Langzeittrends von Bedeutung. Ergänzend sind die branchenspezifischen Trends zu betrachten. Wie Sie diese finden? Namhafte Consulting-Firmen, führende Futurologen und Zukunftsforschungsinstitute haben mithilfe wissenschaftlicher Methoden und computergestützter Simulationen Szenarien für eine Vielzahl von Industrien, Märkten und Lebenssituationen entwickelt, die teils kostenlos auf deren Webseiten abrufbar sind. Wenn es speziell um technologische Entwicklungen geht, ist der Gartner Hype Cycle von Interesse, der u.a. den Reifegrad einer jeweiligen Technologie zeigt. Online-Recherchen, Einblicke in fortschrittliche andere Branchen, Videos, Podcasts und Interviews mit Zukunftsexperten ergänzen die Analyse.
5. Veränderungskräfte identifizieren
Hierzu betrachten wir die maßgeblichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Einflüsse sowie die möglichen Triebkräfte, sog. Driving Forces, die von außen auf eine Branche und speziell auf das eigene Unternehmen langfristig einwirken können. Im Beispiel des Wohnens sind das u.a. die Demografie, der Wohnbedarf, Zu- und Abwanderung, die Einkommenslage, gesetzliche Vorschriften, Infrastruktur, Verkehr, Büro- und Gewerbeflächen, Shoppingverhalten, Energieversorgung, Wasserversorgung, Begrünung, Naturschutz, Smart City und Sicherheit.
6. Mögliche Szenarien entwickeln
Bestimmen Sie nun die Szenarien, mit denen Sie sich ausführlich befassen wollen. Ich empfehle, drei Szenarien aufzusetzen, z.B. ein Beste-aller-Welten-Szenario, ein Sehr-wahrscheinlich-Szenario und ein Schlimmster-Alptraum-Szenario.
Bilden Sie für jedes Szenario eine eigene Arbeitsgruppe. Wichtig: Bei der Entwicklung der Szenarien geht es um mögliche Verläufe, nicht um das für ein Unternehmen machbare. Und ja, dabei müssen wir uns auch mit Alptraum-Szenarien befassen, um Klarheit darüber zu gewinnen, welche Zukunft wir für uns ganz sicher nicht wollen.
7. Future Personas konzipieren
Kreieren Sie für jedes Szenario eine Future Persona, die in diesem Szenario lebt. Personas sind realitätsnahe prototypische Stellvertreter einer Personengruppe. Im Zukunftsmanagement beschreibt ein Persona-Profil einen zwar fiktiven, aber dennoch charakteristischen Menschen und sein Umfeld im anvisierten Jahr. Es beschreibt typische Handlungen, Eigenschaften, Vorgehensweisen und Erwartungshaltungen.
Stellen Sie sich dazu Fragen wie: In welcher Umwelt wird die prognostizierte Person im Zukunftsjahr leben? Wie wird sie arbeiten? Wo und wie wird sie kaufen und konsumieren? Von welchen Trends wird sie beeinflusst? Was sind die vorherrschenden Themen ihrer Zeit? Von welchem gesellschaftlichen Kontext ist sie umgeben, was wird dort wichtig sein und was sorgt für soziale Akzeptanz? Was wird diese Persona begeistern und was wird sie enttäuschen? Entwickeln Sie auf dieser Basis eine lebendige Story einer Passage im künftigen Leben dieser Persona.
8. Passende Handlungsfelder fixieren
Wählen Sie in diesem Schritt aus, mit welchem der Szenarien Sie sich näher befassen wollen. Die Teilnehmer aus den nicht favorisierten Szenarien stoßen dazu, um zu bereichern oder vor potenziellen Gefahren zu warnen. Definieren Sie dann die Handlungsfelder, die sich für Ihr Unternehmen fortan ergeben.
Unser Bauträger könnte sich dabei z.B. auf Zukunftskonzepte wie Co-Living, Co-Working, Co-Gardening und Co-Mobility konzentrieren.
9. Die Zukunftsstrategie definieren
Zunächst geht es nun um das Zukunftszielbild des Unternehmens, welche Idealpositionierung es also in dieser Zukunft haben will. Daraus wird eine Zukunftsstrategie abgeleitet. Dann werden die Etappenschritte definiert, die nötig sind, um die anvisierten Ziele zu erreichen. Um nicht der Gefahr zu erliegen, die Zukunft aus der Vergangenheit und Gegenwart heraus einfach fortzuschreiben, bedienen wir uns der Retropolation, auch Backcasting oder Regnose genannt.
Dabei wird, ausgehend von der beschriebenen Zukunft im Zieljahr, in festgelegten zeitlichen Schritten rückwärtsgehend abgeleitet, was jeweils bis zu einem bestimmten Zeitpunkt getan sein muss, damit die gewünschte Zukunft Wirklichkeit werden kann. Die Frage im Fall eines Fünf-Jahres-Zeitraums lautet bspw.: „Welche Maßnahmen müssen in vier, drei, zwei Jahren bzw. in einem Jahr ergriffen worden sein, wenn wir in fünf Jahren ein Zielbild X erreichen wollen?“ Oder bei einem Albtraumszenario in zehn Jahren: „Welche Maßnahmen müssen in acht, sechs, vier, zwei Jahren ergriffen worden sein, damit uns das ganz sicher nicht passiert?“
10. Umsetzungspläne initiieren
Nachdem die Handlungsfelder fixiert, Zukunftszielbild und -strategie definiert sowie die sich aus der Retropolation ergebenden Etappenschritte festgelegt sind, werden die notwendigen Umsetzungspläne entworfen. Auf diese Weise stolpern Unternehmen nicht länger durch die Umstände getrieben voran, sondern projektieren ihre Zukunft aus der Vorausschau heraus und in einem gesamtheitlichen Kontext.
Wie all das ganz genau funktioniert, erläutert die Autorin im Buch „Zukunft meistern“.
Future Canvas: alles auf einen Blick
Für die Gesamtschau lässt sich ein Future Canvas erstellen. Diese großformatige, einseitige Übersicht, auch Zukunftslandkarte genannt, macht auf einen Blick die wesentlichen Elemente Ihrer strategischen Zukunftsarbeit sichtbar. Hierauf können die einzelnen Aktivitäten und die dazugehörigen Überlegungen festgehalten und gemeinsam mit den Beteiligten bearbeitet werden. Die einzelnen Aspekte werden flexibel und regelmäßig an die fortschreitende äußere und innere Entwicklung angepasst. Die ausführlichen Details zu den einzelnen Aspekten können in einer separaten Dokumentation dargelegt werden.
Anne Schüller

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