„Wir brauchen einen Fakten- und Realitätscheck“

Wortwechsel

Dies ist der zweite Teil in der Rubrik Wortwechsel zur Vereinbarkeitsrichtlinie (EU) 2019/1158. Sie ersetzt die Elternzeit-RL 2010/18/EU und somit die Rahmenvereinbarung über Elternurlaub. Im ersten Teil (AuA 9/22, S. 40f.) haben wir uns u. a. mit dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung beschäftigt und setzen diese Diskussion hier fort: Der Anspruch auf zehn Tage Arbeitsfreistellung des Vaters bzw. des gleichgestellten zweiten Elternteils anlässlich der Geburt steht im Zentrum der Vereinbarkeitsrichtlinie.

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 Bild: Nuthawut/stock.adobe.com
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Welcher Ansicht folgen Sie: Wurde das im deutschen Entwurf umgesetzt oder nicht?

Seeland: Die Richtlinie wurde in diesem Punkt eindeutig nicht umgesetzt. Der Ansicht des Gesetzgebers, dass mit dem BEEG diese Freistellung des zweiten Elternteils bereits im deutschen Recht verankert sei, ist zu widersprechen. Die „Väterfreistellung“ dient, wie in Erwägungsgrund 19 der Richtlinie steht, insbesondere der frühen Stärkung der Vater-Kind-Beziehung und ist auf einen Zeitpunkt rund um die Geburt bezogen. Dieser Anspruch ist in der Richtlinie als subjektives und eigenständiges Recht neben dem Elternurlaub (Art. 5) normiert. Im deutschen Recht findet sich keine vergleichbare Regelung. Die Elternzeit nach § 15 BEEG steht nicht zwingend im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt und kann auch erst zum achten Geburtstag des Kindes enden. Die Einführung wäre auch unter den Aspekten dringend geboten, dass zum einen eine frühe Übernahme von Sorgeaufgaben durch den zweiten Elternteil die spätere partnerschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit nachweislich stärkt. Zum anderen fördert die Normierung als individueller Anspruch die Inanspruchnahme. Das bietet eine echte Chance, Geschlechtsstereotype zu überwinden und einen Wandel der Unternehmenskultur anzustoßen. Die Einführung einer „Väterzeit“ bei SAP zeigt dies. Bei all dem ist aber entscheidend, dass nur eine ausreichend vergütete „Väterfreistellung“ reale Veränderungen bewirkt, denn gerade finanzielle Sorgen halten Väter bzw. das zweite Elternteil davon ab, Freistellungen in Anspruch zu nehmen oder die Arbeitsleistung zu verringern. Eine Vergütung z. B. in Anlehnung an § 4 EntgFG, die den Lohnausfall vollständig kompensiert, ist angebracht. Ansonsten würde die Freistellung des zweiten Elternteils ein Privileg einkommensstarker Familien bleiben. Die Pläne der Ampelkoalition zur Einführung einer vergüteten Freistellung für die Partnerin bzw. den Partner bestätigen den massiven Nachholbedarf.

Lelley: Hier wird ja oft auf das „Paket für Partnerschaftlichkeit“ als noch ausstehendes Gesetzesvorhaben verwiesen. Und wenn dann auch noch von einer bezahlten „Väterfreistellung“ gesprochen wird, ist durchaus zu fragen, warum eine Entscheidung der privaten Lebensgestaltung von Unternehmen finanziell kompensiert werden sollte? Bekanntlich können schon heute Väter Elternzeit nach § 15 BEEG nehmen. Dies ist jedoch weder verpflichtend noch umfasst es zwingend den Zeitraum unmittelbar nach der Geburt. Der Koalitionsvertrag hat bereits eine zehntägige bezahlte Auszeit für den zweiten Elternteil aufgrund der Geburt des Kindes angekündigt, die ebenfalls in der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie vorgegeben ist. Nach Erwägungsgrund 11 der Richtlinie ist in vielen Mitgliedstaaten kein bezahlter Vaterschafts- und Elternurlaub geregelt, sodass – verständlich – nur wenige Väter einen Elternurlaub in Anspruch nehmen. Das ist aber in Deutschland ein anderer Fall. In Deutschland wird Müttern wie Vätern bis zu drei Jahre Elternzeit gesetzlich gewährt. Gemäß § 4 BEEG kann Basiselterngeld bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes, Elterngeld Plus kann bis zur Vollendung des 32. Lebensmonats bezogen werden.

#ArbeitsRechtKurios: Amüsante Fälle aus der Rechtsprechung deutscher Gerichte - in Zusammenarbeit mit dem renommierten Karikaturisten Thomas Plaßmann (Frankfurter Rundschau, NRZ, Berliner Zeitung, Spiegel Online, AuA).

Wie beurteilen Sie die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen? Welche konkreten Änderungen sehen Sie?

Seeland: Der Handlungsbedarf ist groß, schon allein, um überhaupt die Richtlinie vollständig umzusetzen. Einige Aspekte sind bereits angeklungen. Wichtig wäre zum einen, dass auch pflegende Angehörige eine angemessene (steuerfinanzierte) Entgeltersatzleistung während der Freistellung erhalten. Weder die Richtlinie noch deutsches Recht sehen diesen Anspruch jedoch vor. Betrachtet man die demografische Entwicklung, ist dies nicht nachvollziehbar und zudem eine Diskriminierung innerhalb der Gruppe der Sorgeleistenden. Zum anderen besteht erheblicher Umsetzungsbedarf in Bezug auf die Rechtsdurchsetzung und die Sicherung der Rechte. So ist zur Umsetzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 11 der Richtlinie eine Erweiterung des § 1 AGG um das Merkmal „Familie“ (vgl. Antwort zur ersten Frage, AuA 9/22, S. 40f.) oder die Aufnahme des Diskriminierungsverbots in das BEEG und PflegeZG bzw. FamPflegeZG zu fordern. Weiterhin müssen § 18 BEEG und § 5 PflegeZG den erweiterten Kündigungsschutz nach Art. 12 der Richtlinie (Vorbereitungshandlungen einer Kündigung) aufgreifen. Die individuellen Rechte bedürfen einer effektiven Rechtsmobilisierung. Dazu könnten ein eigenständiges Klagerecht der Antidiskriminierungsstelle, ein Verbandsklagerecht sowie die Möglichkeit der Prozessstandschaft durch Interessenvertretungen (§ 23 AGG) eingeführt werden. Der Koalitionsvertrag setzt dazu beim Entgelttransparenzgesetz positive Zeichen. In der Diskussion um die Umsetzung der Richtlinie darf nicht vergessen werden, dass auch eine gute und erschwingliche Betreuungsinfrastruktur vorzuhalten und mit ausreichend qualifiziertem Fachpersonal zu besetzen ist. Hier besteht massiver Nachholbedarf. In diesem Zug muss eine grundlegende Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Care-Berufen erreicht werden, z. B. über tarifliche und gesetzliche bedarfsgerechte Personalbemessungen.

Lelley: Ich bin da recht gelassen. Wir können ja erst einmal abwarten, wie es mit dem Gesetzesentwurf weitergeht und dann kommen nach und nach die anderen Anliegen auf die Tagesordnung. Das beinhaltet sicher auch einen Fakten- und Realitätscheck. Ein Beispiel: Arbeitnehmer, die der Meinung sind, dass sie diskriminiert wurden, weil sie Eltern-, Pflege- oder Familienpflegezeit genommen haben, können sich nach dem Entwurf des Vereinbarkeitsrichtlinienumsetzungsgesetzes an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Diese Ausdehnung der Zuständigkeit der Antidiskriminierungsstelle ist unnötig. Bei dem Antrag auf flexible Arbeitsregelungen sollte nicht nur die Reduzierung der Arbeitszeit, sondern auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und mobilen Arbeit erfasst werden, um die Digitalisierung der modernen Arbeitswelt voranzubringen. Dazu finden wir zur Zeit sehr wenig. Und das, fürchte ich, ist leider symptomatisch: Vermehrt sehen wir aus Brüssel Wellen der Bürokratisierung statt der – dringend gebrauchten – Flexibilisierung heranschwappen. Viele, vor allem kleine und mittelständische, Unternehmen brauchen elastische Arbeitsbedingungen, um unterschiedlichen Lebensentwürfen des Beschäftigten entgegenzukommen. Da helfen mehr Begründungszwang für interbetriebliche Entscheidungen und mehr Kündigungsschutz nicht viel. Und dass der bürokratische Aufwand steigen wird, daran zweifeln wohl nur sehr wenige. Dabei wäre Ent- nicht Belastung das zeitgemäße Stichwort.

Prof. Dr. Johanna Wenckebach

Prof. Dr. Johanna Wenckebach
Wissenschaftliche Direktorin, Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Jan Tibor Lelley

Dr. Jan Tibor Lelley
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner, BUSE, Frankfurt am Main
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· Artikel im Heft ·

„Wir brauchen einen Fakten- und Realitätscheck“
Seite 32 bis 33
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