Die Bundesregierung hat angekündigt, die Arbeit der Mindestlohnkommission auszusetzen und den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben. Haben wir es hier mit einem handfesten Verstoß gegen die Tarifautonomie zu tun?
Klengel: Zunächst einmal: Ja, wir erleben über einen langen Zeitraum eine sukzessive Schwächung der Tarifbindung und nein, ausschlaggebend ist nicht der bereits im Jahr 2015 eingeführte Mindestlohn. Die Einführung des Mindestlohns stellt keine Verletzung der Tarifautonomie dar, sondern eine Reaktion auf ihre Schwächung. Wir sehen hier ja verschiedene, parallel verlaufende Entwicklungen: Die Globalisierung setzt Mitbestimmungsstrukturen unter Druck, hier wird man sehen, ob wir aufgrund der gestörten Lieferketten an einem Wendepunkt angelangt sind. Die Wirtschaftsstruktur verändert sich, die Bedeutung des Betriebs als Mittelpunkt des gemeinsamen Arbeitslebens nimmt ab. Prekäre Beschäftigungsformen erschweren es Arbeitnehmern und Gewerkschaften, zueinander zu finden. Manch ein Unternehmen hat sich aus der Sozialpartnerschaft verabschiedet und neue Unternehmen sind häufig nur schwer erreichbar. Die vielen Verbandsmitglieder „ohne Tarif“ sind ein Symptom, aber auch ein Instrument, das diese Entwicklung fördert. Ob die damit einhergehenden Konsequenzen für die Arbeitsbeziehungen tatsächlich den Interessen der Arbeitgeber entsprechen, daran kann man zweifeln.
Doch zurück zum Mindestlohn. Wer in Vollzeit zum Mindestlohn von 12 Euro arbeitet, erhält ungefähr 2.000 Euro im Monat – brutto. Über diese Untergrenze hinaus steht es Tarifparteien nach wie vor frei, existenzsichernde Löhne zu verhandeln. Doch die Inhalte von Tarifverträgen reichen ja viel weiter: Von A wie Arbeitszeit über S wie Standortsicherung bis Z wie Zusatzversorgung: Tarifverträge regeln viel mehr als die Vergütung, die Bedeutung der „qualitativen Tarifforderungen“ wächst. Eine Verletzung der Autonomie der Tarifparteien, Arbeitsbedingungen zu regeln, kann ich nicht erkennen.
Lelley: Ja, absolut, es ist ein Eingriff und ein Sündenfall der Politik, das kann man aus meiner Sicht nicht anders nennen. „Aus Tariflöhnen werden Staatslöhne“ – der Satz bringt es gut auf den Punkt. Ein durch den Staat festgesetzter Mindestlohn greift erheblich und direkt in die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie ein.
Die Tarifautonomie ergibt sich aus der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit. Die Rechtsprechung des BVerfG besagt, „der Schutz der Koalitionsfreiheit umfasse insbesondere auch die Tarifautonomie. Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen.“ Tarifautonomie ist daher ein Teil der kollektiven Koalitionsfreiheit, das bedeutet, die Freiheit der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge selbstverantwortlich zu gestalten. Die Tarifpartner sind am besten in der Lage, die jeweilige wirtschaftliche Situation in ihren Branchen sowie Betrieben einzuschätzen und passende Regelungen zu vereinbaren. Jeder staatliche Eingriff schwächt den Gestaltungsrahmen der Sozialpartner – und ein solcher Eingriff, wie wir ihn jetzt erleben werden, natürlich erst recht! Daher haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in den letzten Jahren zum Teil stark an Mitgliedern verloren. Allgemein steht der Mindestlohn ja schon in der Kritik, Stichwort Einstellungshindernisse für die Schwächsten am Arbeitsmarkt und Verlust von Arbeitsplätzen. Durch die zusätzliche Dokumentationspflicht sind große Bürokratielasten für die Unternehmen geschaffen.
Es wird ja gottseidank nicht in Abrede gestellt: Die Tarifautonomie ist auch ein unverzichtbarer und wesentlicher Teil unserer freien sozialen Marktwirtschaft. Leitgedanke der sozialen Marktwirtschaft ist es, die Freiheit der Wirtschaft und einen funktionierenden Wettbewerb zu schützen und gleichzeitig Wohlstand und soziale Sicherheit im Land zu fördern. Die Festsetzung eines Mindestlohns durch die Politik beeinträchtigt nicht nur erheblich die Tarifautonomie, sondern auch die freiheitlich-soziale Wirtschaftsordnung.
Welchen Anreiz haben Beschäftigte im Niedriglohnsektor, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, wenn der Niedriglohn ohnehin oberhalb des tariflich vereinbarten Entgelts liegt?
Klengel: Auch wenn das nicht die Masse ausmacht, gibt es in der Tat derzeit einige Tarife, in denen die unterste Entgeltgruppe den Satz von 12 Euro unterschreitet. Hier wird darüber verhandelt, wie damit umgegangen wird. Nur: Die These, dass die Arbeitsbedingungen nur schlecht genug sein müssen, damit sich Beschäftigte kollektiv organisieren, hat sich historisch doch widerlegt. In erfolgreichen Unternehmen mit guten Arbeitsbedingungen besteht zumeist auch eine gute, wenn auch nicht konfliktfreie, Arbeitsbeziehung zu den Beschäftigtenvertretungen. Wo Tarifverträge bestehen, werden sie zumeist ohnehin über Bezugnahmeklauseln für Mitglieder und Nichtmitglieder zur Anwendung gebracht. Der Anreiz für einen Arbeitnehmer, der Gewerkschaft beizutreten, liegt gerade im Niedriglohnbereich doch vor allem darin, dafür zu sorgen, dass das geltende Arbeitsrecht und tarifliche Mindeststandards eingehalten werden. In Bezug darauf ist nach wie vor viel zu tun.
Lelley: Es gibt einen Zusammenhang. Der Mindestlohn verursacht einen deutlichen Rückgang der Tarifbindung sowie eine negative Mitgliederentwicklung bei den Koalitionen, vor allem auf der Arbeitnehmerseite. In Deutschland ist immer noch eine große Zahl der Arbeitnehmer an Tarifverträge gebunden. Mit rund 78.000 gültigen Tarifverträgen haben die Tarifpartner ein erfolgreiches System von Arbeitsbeziehungen geschaffen, das die unternehmerische Effizienz mit der sozialen Teilhabe der Beschäftigten in Einklang bringt. Zuletzt ging nach der Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer beträchtlich zurück. Das Phänomen ist recht einfach zu verstehen. Kernaufgabe der Tarifvertragspartner ist, angemessene Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Unternehmen bzw. dem Arbeitsmarkt durch gesteuerten, gehegten Konflikt und/oder im Verhandlungswege anzupassen, zu vereinbaren und weiter zu entwickeln. Wenn die Koalitionen ihre ureigenste Kernaufgabe durch einen politisch vorgegebenen Mindestlohn verlieren, besteht auch weniger Motivation für die Arbeitnehmer und auch Arbeitgeber, ihren jeweiligen Organisationen beizutreten oder noch als Mitglied dort zu bleiben.
Arbeitgeberpräsident Dulger hat die politische Erhöhung des Mindestlohns als Vertrauensbruch bezeichnet. Ein Gutachten, das Prof. Schorkopf im Auftrag der BDA erstellt hat, kommt zum Ergebnis, dass „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen wird.
Klengel: Prof. Schorkopf verfolgt ja einen kreativen Ansatz: Er zieht einen Vergleich zum Steuerrecht. Hier hat der Gesetzgeber zwar einen großen Spielraum darin, Steuern festzulegen. Rückt er aber von dieser ursprünglichen Entscheidung ab und ändert Besteuerungsgrundsätze, müssen sich diese Änderungen am Gleichheitssatz messen lassen. Es gilt das Gebot der Folgerichtigkeit.
Nun kann man argumentieren, dass die einmalige Aussetzung der Lohnfindung in der Mindestlohnkommission ein solches Gebot verletzt. Doch – selbst wenn man dieses Gebot ins Arbeitsrecht überträgt: In wessen Recht soll hier eingegriffen werden? Für die Freiheit der Tarifvertragsparteien macht es keinen Unterschied, ob der Mindestlohn durch eine Rechtsverordnung nach Vorschlag der Mindestlohnkommission oder durch ein vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber verabschiedetes Gesetz eingeführt wird. Das Verfahren zur Festlegung des Mindestlohns ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben.
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Lelley:Die Meinung von Prof. Schorkopf lässt sich schon hören. Und kreative Ansätze müssen einer tragfähigen juristischen Argumentation ja keinen Abbruch tun. Ein „Mindestlohnerhöhungsgesetz“ stößt eben auf gewichtige verfassungsrechtliche Bedenken. Da geht es insbesondere um Vertrauensschutz als ein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteter verfassungsrechtlicher Grundsatz. Wir alle sollen uns darauf verlassen dürfen, dass sein auf eine bestimmte Rechtslage gegründetes Verhalten nicht durch eine Rechtsänderung anders bewertet wird und getroffene Dispositionen dadurch entwertet werden. Vertrauensschutz verdient die Sicherung von Rechtsansprüchen bei geänderten Rechtsvorschriften oder Vertragsverhältnissen. Durch das „Mindestlohnerhöhungsgesetz“ wird das Recht der Festlegung der Mindestarbeitsbedingungen der Tarifvertragsparteien beeinträchtig. Das ist eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes.
Sind weitere Eingriffe in die Tarifautonomie auf EU-Ebene zu erwarten?
Klengel:Die Veränderungen in der Arbeitswelt betreffen andere Länder in ganz ähnlicher Weise wie Deutschland. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat daher den europäischen Mindestlohn zum zentralen Bestandteil ihrer politischen Agenda gemacht. Inzwischen liegt ein Entwurf für eine Mindestlohn-RL vor. Aufgrund der ungeklärten Kompetenzfrage beschränkt sich dieser jedoch darauf, dass für die Höhe eines nationalen Mindestlohns gewisse Kriterien zu beachten sind. Die RL selbst definiert also keinen Anspruch auf einen bestimmten Mindestlohn, sie würde aber zu einem Umsetzungsbedarf führen, weil der „Kriterienkatalog“ für künftige Mindestlohnentwicklung in Deutschland derzeit noch ein anderer ist. Bezüglich der Höhe des Mindestlohns von 12 Euro wird aufgrund der EU-Gesetzgebung voraussichtlich aber kein unmittelbarer Änderungsbedarf entstehen, jedenfalls wenn man den vorliegenden Entwurf zur Grundlage macht. Der zweite wichtige Eckpfeiler der RL ist die Stärkung der Tarifautonomie, die in den Mitgliedstaaten vorgegeben wird. Auch hier wird Handlungsbedarf in Deutschland entstehen.
Lelley: Der Vorschlag über einen einheitlichen Mindestlohn in Europa wurde als Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip angesehen. Die Europäische Union umfasst derzeit 27 Mitgliedsstaaten. Die Vielfalt der Arbeitsbeziehungen und Lohnfindungssysteme muss gewährleistet werden. Die bestehenden Systeme stehen im Einklang mit den nationalen Traditionen und den unterschiedlichen Systemen der Arbeitsbeziehungen, sie sind daher historisch gewachsen und je nach der Lage des einzelnen Staates sehr unterschiedlich.
Die Festlegung eines europaweit geltenden Mindestlohns unabhängig von der Produktivität würde Langzeitarbeitslosen, Geringqualifizierten, Menschen mit Vermittlungshemmnissen und Berufseinsteigern den Zugang zum Arbeitsmarkt stark erschweren. Die Einführung eines einheitlichen Mindestlohnniveaus könne die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtern und zusätzlich die Leistungsfähigkeit der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den Mitgliedsstaaten erheblich beschränken. Darüber hinaus ist die EU-Kommission nicht zuständig für „das Arbeitsentgelt“, vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV. Zudem ist die Autonomie der nationalen Sozialpartner nicht nur in den nationalen Verfassungen, sondern auch in Art. 28 GR-Charta, als Grundrecht ausdrücklich garantiert.
Dr. Ernesto Klengel
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