Zurück in die Zukunft?
Die Zeit ist reif
Die meisten Studien und Annahmen, die wir heute treffen, beziehen wir auf ein industrielles Wirtschaftsmodell, ein digitales können wir uns noch gar nicht richtig vorstellen. Meistens verschieben wir nur ein paar industrielle Parameter und denken: So, das ist es jetzt – und in Zukunft. Aber ein echtes zukünftiges Arbeitsbild entwickelt sich bereits – und das ganz anders. Seit 2018 können wir messen (anhand von Investitionen in Technologien und Branchen sowie gesuchten Arbeitskräften, technologischen Entwicklungen u.ä.), dass sich mehr digitale als industrielle Strukturen in unserem Alltag entwickeln. Und bereits 2028 bis 2032 (je nach Branche und Region mehr oder weniger) werden wir vielfach mehr digitale Möglichkeiten zur Struktur der Arbeit haben als industrielle.
Es wird also dringend Zeit, sich mal ein paar Gedanken zu machen, wie es werden könnte und nicht, wie es derzeit ist oder passend gemacht werden kann. Denn es kommen viele neue Möglichkeiten – sie nicht zu nutzen, würde uns in vielfacher Hinsicht zurückwerfen.
Da ist sie wieder, die gute alte „Zeit“
Da ist sie wieder, die 35-Stunden-Woche! Ich erinnere mich an meine Kindheit, als sie Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahren als die Lösung aller Probleme gesehen wurde: „Mehr Menschen arbeiten jeweils weniger und alle sind beschäftigt“, so die populistische Perspektive. Damals schon eine Milchjungenrechnung. Ja, „Jungen“, denn die haben diesen Quatsch damals verzapft. Und „Quatsch“ deshalb, weil sie schon damals bemerkenswert einseitig gedacht haben. Und: Arbeit wurde damals wie heute auch vor allem in „Zeit“ gemessen.
Wenn es nach „Zeit“ geht, sollten wir die ganze organisierte Arbeit ohnehin besser bleiben lassen. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, haben 14 (!) Stunden in der Woche gearbeitet, wenn wir nur die reine Zeit zur Versorgung betrachten, nicht die Care-Arbeit (die wir ja heute auch nicht betrachten). Wir haben also 14 Stunden Zeit pro Woche mit der Organisation von Lebensmitteln verbracht. Und den Rest dann mit „Freizeit“? Mitnichten, aber wir haben in Abstimmung mit anderen Mitgliedern unserer kleinen Gruppe das Leben lebenswert gemacht: Unterkünfte geschmückt, sauber gemacht, Wissen vermittelt… Wir haben eine sozial lebenswerte Kultur erhalten. Der Begriff „Freizeit“ existiert erst seit der Industrialisierung, da die Arbeit hier nicht mehr selbstbestimmt und im Einklang mit unserer sozialen Gruppe ausgeführt werden konnte. Unsere Familie und Freunde mussten nämlich immer zurückstecken und sich der industriellen Organisation und Arbeitszeit unterordnen.
Zurück in die Zukunft
In der Agrarwirtschaft war das, wenigstens zu Beginn, noch anders: Die Großfamilie und der Verbund existierten, man richtete sich nach vorhandenen Möglichkeiten und der Natur – wie gesagt, zu Anfang. Ein Problem war schon damals schnell das zunehmend notwendige Wachstum, um die Strukturen aufrechterhalten zu können. Und sowohl Yuval Noah Harari als auch James Suzman haben den Weizen und die hierdurch mögliche Vorratshaltung und Zentralisierung unserer Gesellschaft als den Beginn allen Übels definiert – zumindest in Bezug auf unser Verständnis von Arbeit und Wachstumsgesellschaft.
So, und heute halten wir die Technologisierung unserer Gesellschaft für die Lösung dieses Übels. Mit Fantasien, die sich jeweils positiv wie negativ auslegen lassen: „Wir müssen oder wir dürfen nicht mehr arbeiten!“, in der Kurzfassung. Große Systeme, die wir in der Industrialisierung begonnen haben, werden sich weiter ausbreiten, noch größer werden und irgendwann den Menschen obsolet machen. In der Zwischenzeit erfinden wir neue Steuerschlupflöcher, Automatisierung und bitte auch Freizeitangebote, damit wir armen Menschen nicht dauernd vor Social Media hängen. Ach ja, und einige Menschen haben offenbar Freude daran, sich vorzustellen, wie das Leben ist, wenn man sich die eigene Arbeit mit einem Avatar (statt Roboter) teilt – funktioniert vor allem bei Vortragenden und Schauspielern. Nur, damit es noch mehr zu sehen gibt. Aber was, wenn es alles gar nicht so kommt, kommen muss? Oder wir das vielleicht gar nicht wollen?! Haben wir überhaupt noch einen Willen oder akzeptieren wir einfach jeden Mist, der da um die Ecke kommt: „Nun ist er da, nun müssen wir auch…“? Müssen wir nicht! Wir können selbst denken – hoffentlich – und die neuen Möglichkeiten der Digitalität nutzen, um unser Leben wieder lebens- und wirtschaftswert zu machen. Jetzt ein paar Beobachtungen, die heute bereits stattfinden. Also kein Zukunftsforschergeschwätz, sondern alles, was jetzt kommt, findet bereits statt. Es liegt allerdings an uns, was wir daraus machen.
Die Re-Evolution des Handwerks
Auf der einen Seite haben wir eine Berufsgruppe, die irgendwie niemand auf dem Schirm hat, auch sie selbst sich nicht: die Handwerker. „Sie selbst sich nicht“, da sie in den letzten rund 200 Jahren Industrialisierung gelernt haben, dass sie immer weniger Wert sind, zunehmend abgelöst von zentralen industriellen Strukturen und jetzt auch noch künstlicher Intelligenz und Robotik – so die Logik.
Auf der anderen Seite bemerken wir, dass immer mehr der großen zentralen Strukturen, gerade in der Produktion, keinen Sinn mehr machen. Bei zunehmender Automation von Prozessen sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung in den berühmten „Schwellenländern“sowie Schiffen, die im Suezkanal stecken bleiben und generell Fragen zum Umweltschutz, entwickeln sich die lokalen Produktionen zunehmend wieder zu einem Erfolgsmodell, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch die lokale Wertschöpfung wieder zurück in unsere Nähe holen. Und die brauchen wir, denn solange wir jeden Euro von unserer Haustür aus direkt nach Amerika oder Asien transferieren, kann vor Ort keine Wertschöpfung entstehen. Die brauchen wir aber, wenn wir nicht in zunehmend ausgestorbenen Orten stehen wollen.
Das Handwerk mit seiner polyzentralen Struktur, den CAD-fähigen Maschinen, kann sich heutzutage digital vernetzen und über digitale Baupläne und sensorüberprüfte Qualität auch – dann eben im Netzwerk – große Aufträge abarbeiten, indem mehrere Betriebe sich für diesen Auftrag zusammenschließen. Das funktioniert in verschiedenen Gewerken schon prima, bspw. bei Tischlereien, in der Textilproduktion, bei Kosmetika und Nahrungsmitteln. Es ist also die Frage erlaubt, ob es nicht eine intelligentere Produktions- und damit auch Arbeitsstruktur gibt als die industrielle.
Die handwerkliche KI – künftig ohne Bürokratie
Künstliche Intelligenz spielt im Handwerk dabei zukünftig eine große Rolle. Zunächst einmal wird sie dafür sorgen, dass diese vernetzten Produktionen mit lokaler Wertschöpfung fehlerfrei laufen. Ein Dachdecker wird zukünftig das Dach scannen, dann eingeben, wie er es decken will, sich von der KI alle Arbeitsmaterialien anzeigen lassen, bestellen und loslegen. Vor allem aber wird die KI ihm etwas abnehmen: den bürokratischen Aufwand. Richtig, das, worüber alle derzeit reden, wird zukünftig die KI erledigen. Das automatische Ausfüllen und Abstimmen aller EU-Regulatorik zu Umwelt und was nicht allem.
Dabei werden wir die KI nur zu Beginn dazu nutzen, dass sie automatisch alle Daten in Formulare einträgt und Informationen zusammenführt sowie den richtigen Stellen zuführt. Wir können sie auch dazu nutzen, dass zukünftig Daten automatisch in übergreifende Systeme eingespeichert werden und wir zunehmend eine direkte Einschätzung von Regionen, lokalen Situationen und globalen Fragen per KI sammeln und steuern können.
Das Handwerk hat dabei nicht nur goldenen, sondern vor allem sozial und umweltfreundlich strukturierten Boden, denn über die lokale Wertschöpfung der zunehmend wieder lokalen Produktion werden industrielle Prozesse vermehrt wieder abgelöst. Wir können sie sozusagen als „vorübergehend“ in unserem Kopf betrachten. Die polyzentralen Strukturen (autark, die sich schnell miteinander vernetzen können) sind schlichtweg stabiler, sicherer, mehr an Lebens- und Wirtschaftsqualität orientiert.
500 – mehr geht nicht
Dabei kommt noch ein psychologischer Umstand hinzu: Mehr als 500 Menschen verstehen wir nicht, können wir nicht mehr einordnen oder zu ihnen eine Beziehung aufbauen. Metropolen, die wir heute haben, haben das auch bereits erkannt und versuchen, die Innenstädte loszuwerden und stattdessen wieder Bezirke (heute nennen wir das Quartiere) mit nicht mehr als 20.000 Menschen zu gestalten, die in diesem Rahmen den größten Teil ihrer Daseinsvorsorge bestreiten können. Auch die Arbeit soll also zunehmend wieder Teil sozialer statt industrieller Alltagsstrukturen werden. Im Moment schießt uns selbst in den Metropolen die fehlende lokale Wertschöpfung noch etwas dagegen. Aber auch hier erwächst die Erkenntnis. Die kleineren Städte und Gemeinden oder gar kleinere Länder werden da allerdings oft schneller sein und den Metropolen in diesen neuen Möglichkeiten, das Leben und Arbeiten zu organisieren, den Rang ablaufen.
Letzte Woche war ich in Luxemburg, bei der dortigen Handwerkskammer (La Chambre des Métiers) zum 100. Jubiläum. Dass 100 die Hälfte von 200 ist, ist man sich dort sicher und hat dabei die neuen digitalen Möglichkeiten bereits im Blick. In einem solch kleinen Land sind diese zudem faszinierend schnell umsetzbar, wenn vom Großherzog über den Premierminister und weitere wesentliche Persönlichkeiten, aber auch die wichtigsten Handwerksbetriebe sich mal eben kurz treffen – und das gern auch mehrmals im Jahr. Da redet man nicht nur, sondern kommt auch schnell ins Handeln. Ein Land wie Luxemburg kann dank solcher Strukturen drei- bis fünfmal so schnell digitale Strukturen einführen wie Deutschland oder Frankreich. Selbiges gilt auch für kleinere Regionen in diesen Ländern gegenüber großen Metropolen.
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Die Genossenschaften sind zurück
Das Wort „Genossenschaft“ klingt irgendwie altertümlich, auch ein paar der internen Strukturen erscheinen wie aus einer anderen Zeit. Dabei ist das Genossenschaftssystem Teil der Lösung einer Lebens- und Wirtschaftsqualität in der Digitalität, basiert es doch auf einer Mischung aus wirtschaftlichen und werbebasierten Zielen, die zudem von einer unabhängigen Kommission überprüft werden. Im Wohnungsbau gelten Genossenschaften bereits heute als die Lösung, denn sie dürfen nur die tatsächlichen anfallenden Kosten an die Mieter weiterreichen und sind derzeit die einzige Möglichkeit in vielen Metropolen, bezahlbaren Wohnraum zu gestallten. Im übertragenen Sinne gilt es auch für: lebenswerte Gesellschaft gestalten. Denn Genossenschaften sind in der Regel nicht nur dem eigenen Gewinn, sondern auch dem Gemeinwohl verpflichtet – und es könnte sein, dass das langfristig das weitaus lebenswertere System ist als das heutige industriell am Gewinn orientierte.
Vor allem, wenn wir zunehmend die Daten haben, die das messen können: Gehe ich heute mit meiner Uhr am Arm in eine Genossenschaftsbank (oder auch Sparkasse), sehe ich anhand einer App (die Daten des Unternehmens in Ringform zur Verfügung gestellt), dass hier 57% des Gewinns der Allgemeinheit zukommen. Bei einer anderen deutschen Großbank betrete ich eine Filiale und sehe auf meiner Uhr, es sind nur 7%. Als Kunde habe ich zukünftig die Wahl und zunehmend auch die Daten.
Einige Prozesse der genossenschaftlichen Struktur lassen sich, neben einem Namen, der vielleicht mehr Bezug zum Jetzt hat, auch wieder per KI stark optimieren. Dazu gehört auch, dass es in der EU ab kommendem Jahr möglich wird, Verträge mit einer Genossenschaft mittels digitaler Signatur abzuschließen. Dann kann man quasi am Handy in der App beitreten und wieder austreten, Stimmen abgeben und so weite Teile des Handelns (als Mitglied einer Genossenschaft kann man das) mitbestimmen.
Was kann das mit einer Gesellschaft machen, wenn wir von der industriellen gewinnbasierten Idee auf die genossenschaftliche wertebasierte Idee umschwenken, dabei gleichzeitig mehr Menschen involvieren und lokale Wertschöpfung erzielen? Nur eine Utopie? Tatsächlich können wir solche Bestrebungen in vielen Teilen der Gesellschaft bereits erkennen, allein die Umsetzung fehlt oft. Nicht weil es nicht möglich ist, sondern weil oft das Wissen fehlt und der Glaube an die Möglichkeiten, dass es nach der Industrialisierung eine aktuelle Geschichtsschreibung gibt, die sich an einer modernen Auslegung von Menschlichkeit und Gesellschaft orientiert.
Es kommt alles ganz anders
Ich finde das fast schon amüsant, wie wir immer noch weitläufig glauben, die bestehenden Strukturen werden sich, wie die letzten 200 Jahre, einfach nur inkrementell weiterentwickeln – Größe gewinnt! Gleichzeitig sehen wir, wie sich in vielen Bereichen die Strukturen bereits verändern. Aber inzwischen erkennen wir zumindest: Es lohnt sich nicht mehr, dass am besten jedes Kind Informatiker wird, wie wir noch vor zwei Jahren dachten. Genauso wie wir heute erkennen, dass Journalisten und Juristen wie auch Zugführer nicht von der KI ersetzt werden, sondern unterstützt. Alle Menschen erhalten zunehmend tiefere Einblicke, wie ich auf meiner Uhr.
Wir werden keine 35-Stunden-Woche brauchen, auch nicht nur die 14 Stunden unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren arbeiten. Aber wir werden wieder mehr Strukturen in unserer Gesellschaft schaffen, die lokale Wertschöpfung und damit Lebensqualität für uns selbst wie auch die umgebende Allgemeinheit bieten. Einfach weil es geht und wir es bei unseren Nachbarn sehen können. Und dann werden wir in Deutschland hoffentlich die Idee haben: Wir sind das Land mit der besten Lebens- und Wirtschaftsqualität, weil wir die höchsten Werte haben. „Made in Germany“ neu gedacht. Natürlich können wir weiter in der Idee der Industrialisierung arbeiten und leben – aber es kommt trotzdem alles ganz anders.
Max Thinius
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