Geleitwort: Politische Ehrlichkeit

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Alexander R. Zumkeller Rechtsanwalt, MBA, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen e.V. (BVAU), Head HR Policies & Labour Relations ABB Germany, Global Manager GBS HR Expert Services Labour Relations, Global Lead CoE Labour Law, ABB AG, Mannheim Bild: BVAU
Alexander R. Zumkeller Rechtsanwalt, MBA, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen e.V. (BVAU), Head HR Policies & Labour Relations ABB Germany, Global Manager GBS HR Expert Services Labour Relations, Global Lead CoE Labour Law, ABB AG, Mannheim Bild: BVAU

Das Urteil des EuGH vom 14.5.2019 (C-55/18, AuA 9/19, S. 548): eigentlich – ja: eigentlich – eine wenig aufregende Entscheidung. Im Fall ging es darum, dass Arbeitszeiten überhaupt nicht erfasst wurden, und es – außer „Netto-Mehrarbeitsstunden“– keinerlei Aufzeichnungen gab. So war natürlich nicht überprüfbar, ob z. B. Höchstarbeits- oder Mindestruhezeiten eingehalten wurden. Nur die Verpflichtung, lediglich geleistete Überstunden zu erfassen, bietet eben kein (wirksames) Mittel dazu. Darüber könnte man streiten – aber das ist nun durch den EuGH entschieden.

Nüchtern betrachtet bedeutet dies für Deutschland nicht allzu viel: Hinsichtlich der Durchsetzung der Rechte, Höchstarbeits- und Ruhezeiten einzuhalten, besteht nämlich sehr wohl eine gesetzliche Regelung: § 16 Abs. 2 ArbZG. Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, die über die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende aufzuzeichnen.

Der EuGH hat ausgeführt: Wenn der Staat mit den erforderlichen Maßnahmen dafür sorge, dass Unternehmen aktuelle Listen über alle betroffenen Arbeitnehmer führen, die Verletzungen von Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten erkennen lassen, muss eine weitergehende Aufzeichnung nicht erfolgen. Das ergibt sich aus Art. 22 der Richtlinie 2003/88/EG. Und, nochmals: Nüchtern betrachtet bedarf es also eines Systems, das die Höchstarbeits- wie auch die Mindestruhezeiten nachweist. Es brauchen lediglich „die erforderlichen“ Maßnahmen getroffen zu werden, um den Zweck, die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit, die in der Richtlinie festgesetzt sind, nachzuweisen. Das ArbZG erfüllt davon schon einmal die Hälfte, nämlich den Beleg der Einhaltung der Höchstarbeitszeit. Die Lücke, die gefüllt werden muss: Selbst bei Einhalten der Höchstarbeitszeiten kann die Einhaltung der Mindestruhezeit verletzt werden, also muss über die Ruhezeiteinhaltung ein Beleg geführt werden.

Handlungsbedarf? Ja. Aber es ist eben auch ausreichend, einen weiteren Beleg zu führen – über die Ruhezeiten. Bzw., analog zu den Höchstarbeitszeiten, einen solchen nur zu führen, wenn eine Verletzung droht – also z. B. wenn die Ruhezeit weniger als 12 oder 13 Stunden beträgt, etwa eine Ergänzung des bereits benannten § 16 Abs. 2 ArbZG. Als Satz 2 könnte dort stehen: „Ebenso sind Ende und Beginn der tatsächlichen Arbeitszeit aufzuzeichnen, wenn die Differenz kürzer als die individuelle einzuhaltende Mindestruhezeit zuzüglich einer Stunde betrug“. Damit wären Ruhezeiten, die an der „Grenze“ zur gesetzlichen Ruhezeit angelangen, erfasst. Wer täglich seine acht Stunden (zzgl. Pausen) arbeitet, müsste dann nur aufzeichnen, wenn die Ruhezeit in Richtung „Bedenklichkeit“ steuert.

Der EuGH lässt keine Frage offen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Systems zu regeln, und das unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs. Ausnahmen dürfen erfolgen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Das bedeutet, dass etwa Leitende Angestellte oder AT-Beschäftigte von einer Erfassung ausgenommen werden können, auch Berufsgruppen – etwa Servicetechniker und Außendienstler. Und schließlich können Gleitzeitsysteme ohne Arbeitszeiterfassung (gemeinhin „Vertrauensarbeitszeit“ genannt) ausgenommen werden, denn die „Dauer der Arbeitszeit (kann) von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden“, eine weitere zulässige Ausnahme der Erfassung. Freilich könnte sinnvoll sein, diese Ausnahmen unter einen Betriebsvereinbarungsvorbehalt zu stellen. Rechtssicherheit ist also schnell und einfach herstellbar.

Was wir in dieser Thematik der Politik abverlangen sollten, ist Ehrlichkeit. Wer die volle Arbeitszeiterfasssung politisch will, darf sich nicht auf diese Entscheidung des EuGH stützen, sie trägt nicht. Er muss politisch ehrlich sein und das so sagen. Mein Horrorszenario? Eine gesetzliche Regelung, die wieder einmal aus politischem Opportunismus Kleinbetriebe und staatliche Betriebe ausnimmt und die Last nur den größeren aufbürdet. Das wäre, gerade im Lichte der Grundrechtecharta, grob rechtswidrig. Denn gerade die großen Betriebe mit Betriebsrat und Tarifbindung sind im Wesentlichen compliant.

Alexander R. Zumkeller

Alexander R. Zumkeller
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Seite 628
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