Veränderte Arbeitswelten im Kontext der Stillstanderfahrung: Eine Welt ohne globale Arbeitsteilung, internationale Spezialisierungsmuster und länderübergreifende Wertschöpfungsketten ist heute kaum mehr vorstellbar. Und doch ist die Globalisierung während der vergangenen Jahre nach und nach rechtfertigungspflichtig geworden. Gesichtslose Kapitalströme bieten inhärente Angriffsflächen für die Globalisierungskritik sowohl aus nativistischer als auch aus kapitalismusfeindlicher Ecke. Plötzliche Migrationsbewegungen lassen bislang ignorierte Fernverflechtungen erlebbar werden. Handelsbeschränkungen sind nicht erst durch das BlameGame des ehemaligen US-Präsidenten wieder en vogue. Und selbst die fulminante Entwicklung und Distribution von Impfstoffen über die Ländergrenzen und Kontinente hinweg hat kaum geholfen, den freien Fluss von Wissen und Ideen als wichtige Globalisierungsdimension zu legitimieren.
Schließlich hat die pandemische Stillstanderfahrung der Globalisierung einen weiteren Hieb verpasst. Gerade die Wirkungen des zwischenzeitlich immer wieder wichtigen und richtigen Social Distancing haben sich wenig beachtet verselbstständigt. Insbesondere das Entkoppeln von Menschen und ihrem physischen Arbeitsplatz, das während der Pandemieperiode vielerorts zur Normalität erwachsen war, wirkt strukturell auf die Globalisierung. Denn die traditionellen Pulsadern des globalen Austauschs von Gütern, Devisen, Kultur und Ideen –die Agglomerationsräume – wurden durch die unterschiedlichen Lockdowns um ihre strukturelle Vorteilsposition gebracht.
Den Zusammenhang zwischen Dichte und Innovation hat schon Herbert Giersch als Vulkantheorie beschrieben. Tatsächlich basieren Superstar Cities letztlich auf dem lebendigen Zusammentreffen ganz bestimmter Netzwerke. In der durchaus zufälligen Interaktion der Heterogenität entstehen dann die innovationstreibenden Vulkane ganz bestimmter Prägung, die wiederum entsprechende Strahlkraft ins Umland entfalten. Globalisierung und Urbanität bedingen sich so gegenseitig – zu normalen Zeiten.
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Während der Pandemie wurde diese Symbiose radikal infrage gestellt. Denn wenn Menschen die Fühlungsdichte der Urbanität etwa aus gesundheitlichen Gründen bewusst meiden oder aufgrund von Verboten gar meiden müssen, dann verlieren die quirligen Agglomerationsvulkane ihre traditionelle Attraktivität. Aufgrund der fortgeschrittenen Digitalisierung der Arbeitswelt ist eine solche Rückkehr ins ganze Haus technisch möglich. Viele Menschen können tatsächlich relativ reibungslos dezentral miteinander arbeiten. Mit Homeoffice und Telearbeit haben Unternehmen rund um die Welt ihren Mitarbeitenden schon längst ein hohes Maß an Flexibilität gewährt.
Mit der stetigen Verlängerung der Lockdowns aber haben sich zunehmend die Kosten der geografischen Entkoppelung von der Arbeit gezeigt. Wenn Menschen nicht spontan und beiläufig zusammentreffen (können), verändern sich auch Ideenfindungs- und Wissensdiffusionsprozesse. Jeder Kontakt muss dann formal eingesteuert, jedes Treffen kalenderkonform ausstaffiert werden. Zufälliger Austausch findet in der Digitalität viel weniger statt als bei physischen Zusammenkünften. Selbstverständlich bleiben eingeübte internationale Netzwerke auch in der Stillstandperiode höchst effizient. Auch hier bilden sich jedoch Ermüdungsprozesse heraus, wenn die physische Entfremdung etwa keine Querschnitte in Parallelnetzwerke mehr erlaubt.
Digitalisierung hat die Globalisierung einst auf ein neues Niveau gehoben. Vielen Menschen ermöglicht sie zudem eine attraktive Anstellung wahrzunehmen, ohne dauerhaft die Heimat verlassen zu müssen. Im Lockdown hat die plötzliche Digitalisierung vieler Arbeitsweisen zudem Menschenleben geschützt. Jetzt aber, da Impfungen das Risiko der Krankheiten beherrschbar machen, muss auch die Kehrseite der vollständig digitalisierten und geografisch entkoppelten Arbeitsweisen in Erinnerung gerufen werden. Für eine Welt unterschiedlich schillernder Vulkane bedarf es lebhafter Agglomerationsräume, Tuchfühlung und Fühlungsdichte ebenso wie offene Grenzen.
Prof. Dr. Michael Hüther
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