Meinung: Katastrophe Bürgergeld

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 Bild: Jörg Eberl
Bild: Jörg Eberl

„Wir zahlen so viel Bürgergeld. Deshalb müssen wir jetzt noch viel, viel mehr zahlen, damit sie wirklich Arbeit aufnehmen wollen!“, scheint das aktuelle Motto. Die kürzlich aus der SPD angestoßene Debatte über 1.000 Euro Prämie für Langzeitarbeitslose, wenn sie zwölf Monate arbeiten, zeigt eines: Selbst die politischen Erfinder des Bürgergelds beginnen offensichtlich zu verstehen, dass etwas völlig falsch läuft bei der Ausschöpfung menschlichen Potenzials in Deutschland. Die nackten Zahlen sind eine Katastrophe:

Über vier Mio. Bürgergeldempfänger gelten als erwerbsfähig, davon etwa 1,7 Mio. als uneingeschränkt erwerbsfähig, viele davon gehen aber keiner Erwerbstätigkeit nach. Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe für ihre Inaktivität. Es scheint, als ob ihr Lebensmotto lautet: „Andere sollen für meinen Lebensunterhalt sorgen!“

Bei anderen erwerbsfähigen Bürgergeldempfängern gibt es (nachvollziehbare) Gründe, warum sie nicht arbeiten. Laut der BA kümmern sie sich um ihren Haushalt, erziehen Kinder, pflegen Angehörige oder belegen einen Integrationskurs.

Der Anteil der „verhärteten“ Fälle im Bürgergeldsystem, also von Menschen, die seit vier Jahren oder länger Bürgergeld (früher Hartz IV) beziehen, ist mit 40 % – so die offiziellen Statistiken – leider extrem hoch. Das bedeutet, dass ein erheblicher Teil der Bürgergeldempfänger langfristig im System verbleibt. Nur etwa eine von 200 „verhärteten“ Personen schafft es monatlich, das System zu verlassen und in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu wechseln.

An „Nachschub“ für dieses traurige System besteht leider kein Mangel. Nach Daten der OECD steigt die Zahl der Jugendlichen in Deutschland, die weder einen höheren Schulabschluss noch eine Berufsausbildung machen immer weiter. Bald dürfte hier die 20 %-Marke fallen.

Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich eine entsetzliche Tatsache: Jeden Tag geht in Deutschland unermessliches menschliches Potenzial verloren. Wenn gesunde, oft junge Menschen über Jahre hinweg im Bürgergeld verharren, hat das gravierende Folgen für ihre persönliche Entwicklung. Im Bürgergeld nehmen wichtige Fähigkeiten ab, Wissen veraltet. Wertvolle Kontakte und nützliche Gewohnheiten, die für den eigenen Lebensunterhalt und ein selbstbestimmtes Leben notwendig sind, schwinden.

Ist das wirklich die Art zu leben, die wir als Gesellschaft fördern und finanzieren sollten? Ich finde: Nein!

Es geht mir nicht darum, den Sozialstaat als solchen infrage zu stellen oder die finanzielle Unterstützung für Menschen zu streichen, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht in der Lage sind, ausreichend für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Vielmehr möchte ich mit drei Fragen zu einem neuen Blickwinkel einladen:

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1. Ist unser Sozialstaat in seiner jetzigen Form wirklich effektiv? Oder erhalten häufig die falschen Personen finanzielle Unterstützung, während diejenigen, die sie wirklich benötigen, zu wenig Beachtung finden?

2. Wenn wir Hunderttausende junge, gesunde und arbeitsfähige Menschen in einer passiven Komfortzone belassen und dauerhaft ihren Lebensunterhalt finanzieren – helfen wir ihnen damit wirklich? Oder hindern wir sie vielmehr daran, sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln?

3. Was brauchen Menschen tatsächlich, um handlungsfähig zu werden und ihr Leben aktiv zu gestalten, anstatt passiv von anderen abhängig zu sein? Viele fragen: „Wie können wir Menschen mehr Bürgergeld geben?“ Sollten wir nicht eher fragen: „Wie können wir Menschen mehr Handlungsfähigkeit geben?“

Ein solcher Perspektivwechsel hin zum aktiven Gestalten des eigenen Lebens ist nicht für jeden leicht und widerspricht lieb gewonnenen politischen Opfer-Narrativen. Doch diese neue Botschaft gibt den Menschen ihre Macht zurück, ihre Freiheit, ihren Glauben an sich selbst und ihren Stolz. Eigenschaften, die wir zu Recht mit dem Begriff „Bürger“ verbinden.

Prof. Dr. Florian Becker

Prof. Dr. Florian Becker
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Meinung: Katastrophe Bürgergeld
Seite 11
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