Meinung: Lösen wir die Arbeitsweltkrise

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Waldemar Zeiler ist Mitgründer des Unternehmens in Verantwortungseigentum einhorn, Aktivist und gemeinsam mit Katharina Hoeftmann-Ciobutaro Autor des Buchs "Unfuck the Economy". Bild: Waldemar Zeiler
Waldemar Zeiler ist Mitgründer des Unternehmens in Verantwortungseigentum einhorn, Aktivist und gemeinsam mit Katharina Hoeftmann-Ciobutaro Autor des Buchs "Unfuck the Economy". Bild: Waldemar Zeiler

Viele Arbeitgeber sind durch Corona mit unglaublichen Herausforderungen konfrontiert. Ja, auch ich kann dieses und auch das Wort „Krise“ nicht mehr hören, aber es wird uns wohl noch eine ganze Weile beschäftigen. Insbesondere das Verhältnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen wird auf die Probe gestellt: Homeoffice, Maske im Büro tragen, kaum persönliche Momente mehr, um die Teamkultur am Leben zu halten, eine extreme psychische Belastung durch Überforderung und Existenzängste lassen viele Führungskräfte ratlos zurück. Die viel beschworene VUCA-Welt hat mit Corona wohl ihren Endgegner gefunden.

Aber seien wir mal ehrlich: Waren wir nicht schon vor Corona in einer Krise der Arbeitswelt? Laut der jährlichen Gallup-Studie machten 2019 über 25,6 Millionen Arbeitnehmer*innen (69 %) nur Dienst nach Vorschrift, 6 Millionen (16 %) hatten schon innerlich gekündigt und nur 15 % fühlten sich ihrem Unternehmen verbunden. Der Blick auf die Statistiken der Krankenkassen spricht ebenfalls Bände: Seit 1997 hat sich die Zahl der Krankschreibungen, die durch psychische Leiden verursacht werden, verdreifacht. Der häufigste Grund, warum Arbeitnehmer*innen krankgeschrieben werden, ist eine Depression. International sieht es ähnlich aus. In einer Umfrage der Harvard Business Review mit über 12.000 Fachkräft*innen sagten die Hälfte der Teilnehmenden, dass ihr Job für sie keinen Sinn oder keine Bedeutung habe. Eine andere Studie unter britischen Arbeitnehmer*innen ergab, dass ganze 37 % denken, dass sie einen Bullshit-Job ausüben.

Das alles gab es schon vor Corona, und deswegen ist es wohl nicht zu weit hergeholt zu behaupten, dass wir auch schon vor Corona in einer Arbeitsweltkrise steckten.

Für mich ist es auch eine Sinnkrise. Wir stehen weltweit vor enormen Herausforderungen, die Corona nur noch beschleunigt bzw. transparenter macht. Wir stecken tief in einer Klima- und Biodiversitätskrise. Wir erleben eine extreme Ungleichverteilung von Kapital und damit auch Ungerechtigkeit auf der Welt, wunderschön von einer Oxfam-Studie untermalt, nach der gerade mal 26 Menschen die Hälfte des Weltvermögens besitzen. Unsere Demokratie wird einem gewaltigen Stresstest unterzogen.

Die Wirtschaft, also wir alle, haben einen wesentlichen Teil zu den genannten Herausforderungen beigetragen und tun dies durch unser Handeln jeden Tag aufs Neue. Ist es dann verwunderlich, dass die Zahnräder dieses Systems – also die Arbeitnehmer*innen – zu 85 % nur Dienst nach Vorschrift machen oder innerlich gekündigt haben?

Die Lösung der großen Probleme unserer Zeit wird auch mit großer Sicherheit die Arbeitsweltkrise lindern, wenn nicht sogar lösen. Es liegt an uns Arbeitgeber*innen, unsere Unternehmen für die Zukunft aufzustellen und den viel beschworenen „Purpose“ wirklich umzusetzen. Seid ihr dabei? Na dann,„let’s unfuck the economy!“:

Traut euch! Macht Dinge anders. Gebt euren Mitarbeitenden mehr Verantwortung und mehr Freiheit! Lasst eure Mitarbeiter*innen nach Möglichkeit entscheiden, wann, wie lange und wo sie arbeiten wollen, und seid viel familienfreundlicher. Schließt die Genderpay-Lücke in eurem Unternehmen, gebt jungen Eltern Gehaltserhöhungen, und wenn ihr ganz mutig seid, dann führt Gehaltstransparenz ein.

Denkt wirklich mal über Verantwortungseigentum nach. Falls ihr beispielsweise keine/n Nachfolger*in für euren mittelständischen Betrieb habt, ist das eine grandiose Lösung, und euer geliebtes Unternehmen kann von den Mitarbeiter*innen in eurem Sinne weitergeführt werden. Außerdem ist die Bewegung dahinter mit vielen jungen und etablierten Unternehmen großartig.

Bucht einen Workshop zum Thema „ErstsensibilisierungRassismus“ für euer Unternehmen. Ihr werdet staunen, wieviel institutioneller und struktureller Rassismus auch in eurem Unternehmen existiert. Ihr glaubt, dass Rassismus in eurem coolen, jungen Unternehmen kein Thema ist? Dann erst recht buchen, um das sog. „Happyland“ schnellstmöglich zu verlassen.

Waldemar Zeiler

Waldemar Zeiler
Mitgründer zweihorn Energy, Berlin
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· Artikel im Heft ·

Meinung: Lösen wir die Arbeitsweltkrise
Seite 695
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