Betriebsratswahl: Einsichtnahme in Wahlunterlagen durch Arbeitgeber
Problempunkt
Die Arbeitgeberin begehrt im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens vom Betriebsrat Einsicht in die Wahlakten zur Betriebsratswahl vom 17.6.2021, die von der Arbeitgeberin angefochten worden war. Das ArbG Berlin hat mit Beschluss vom 5.8.2021 die Anträge der Arbeitgeberin auf vollständige Einsicht in die Wahlakten, hilfsweise auf vollständige Einsicht in die Briefwahlunterlagen, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, der Anspruch der Arbeitgeberin sei durch die Einsichtnahme am 28.6.2021 erfüllt. Anspruch auf Einsicht in die Briefwahlunterlagen habe die Arbeitgeberin nicht, weil sie ein berechtigtes Interesse auf Einsichtnahme in die Bestandteile der Wahlakten, aus denen Rückschlüsse gezogen werden könnten, wer sich nicht an der Wahl beteiligt habe, nicht dargetan hat.
Entscheidung
Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin hat das LAG den Beschluss abgeändert und dem Betriebsrat im Wege der einstweiligen Verfügung aufgegeben, der Arbeitgeberin vollständige Einsicht in die Wahlakten zur Betriebsratswahl zu gewähren. Der Antrag ist hinreichend bestimmt i.S. v. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Antrag erstreckt sich auf die Einsichtnahme in sämtliche beim Betriebsrat vorhandenen, vom Wahlvorstand zu den Wahlakten genommenen schriftlichen Unterlagen über die am 17.6.2021 durchgeführte Betriebsratswahl.
Die Arbeitgeberin hat einen Anspruch auf Einsichtnahme in die vollständigen Wahlakten, der noch nicht erfüllt wurde. Aus der in § 19 Wahlordnung normierten Pflicht des Betriebsrats, die Wahlakten mindestens bis zur Beendigung seiner Amtszeit aufzubewahren, ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch des Arbeitgebers auf Einsichtnahme in die Wahlakten (BAG, Beschl. v. 27.7.2005 – 7 ABR 54/04, NZA 2006, S. 59; Fitting, BetrVG, 30. Aufl. 2020,§ 19 Wahlordnung 2001, Rz.2). Die Aufbewahrungspflicht gem. § 19 Wahlordnung soll es ermöglichen, auch nach Abschluss der Betriebsratswahl vom Inhalt der Wahlakten Kenntnis zu nehmen, um die Ordnungsmäßigkeit der Betriebsratswahl überprüfen zu können. Diese Befugnis steht nicht nur dem Betriebsrat zu, der die Wahlakten aufzubewahren hat und dessen Mitglieder deshalb jederzeit ohne Weiteres die Möglichkeit haben, die Wahlakten einzusehen. Vielmehr ergibt sich aus dem Zweck der Aufbewahrungspflicht ein berechtigtes Interesse derjenigen an der Einsichtnahme in die Wahlakten, für die die Gültigkeit der Betriebsratswahl von Bedeutung ist. Das sind zumindest diejenigen Personen und Stellen, die nach § 19 Abs. 2 Satz 1 BetrVG berechtigt sind, die Betriebsratswahl anzufechten (BAG, Beschl. v. 27.7.2005 – 7 ABR 54/04, NZA 2006, S. 59).
Das Recht des Arbeitgebers auf Einsichtnahme in die Wahlakten der Betriebsratswahl gilt im Hinblick auf das nach § 14 Abs. 1 BetrVG auch für die Betriebsratswahl gewährleistete Wahlgeheimnis nicht uneingeschränkt für die Bestandteile der Wahlakten, aus denen Rückschlüsse auf das Wahlverhalten einzelner Arbeitnehmer gezogen werden können. Die Einsichtnahme in diese Unterlagen ist nur zulässig, wenn dies zur Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl erforderlich ist. Dies gilt z. B. für die mit Stimmabgabevermerken des Wahlvorstands versehenen Wählerlisten, für von Briefwählern zurückgesandte Briefwahlunterlagen oder für persönliche Schreiben einzelner Wahlberechtigter an den Wahlvorstand (BAG, Beschl. v. 12.6.2013 – 7 ABR 77/11, NZA 2013, S. 1368). Die Stimmabgabevermerke des Wahlvorstands bzw. die zurückgesandten Umschläge bei der Briefwahl lassen Rückschlüsse darauf zu, wer sich nicht an der Wahl beteiligt hat. Dies aber ist ein Umstand, der durch das Wahlgeheimnis geschützt wird, weil auch in der Unterlassung der Stimmabgabe eine Wahlentscheidung liegen kann. Die Einsichtnahme des Arbeitgebers in solche Bestandteile der Wahlakten ist deshalb nur zulässig, wenn die Einsichtnahme gerade in diese Schriftstücke zur Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl notwendig ist, was der Arbeitgeber darzulegen hat (BAG, Beschl. v. 27.7.2005 – 7 ABR 54/04, Rz. 25).
Bei Anwendung dieser Grundsätze war vorliegend ein Anspruch der Arbeitgeberin auf Einsicht in die vollständigen Wahlakten zu bejahen. Die Arbeitgeberin hatte dargetan, dass diese Einsichtnahme zur Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Wahl erforderlich ist. Die Arbeitgeberin hat dargetan, dass sie die Einsichtnahme in diese Unterlagen benötigt, um prüfen zu können, ob es Fehler im Wahlverfahren gegeben hat, die sie noch im Anfechtungsprozess vortragen kann und muss.
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Konsequenzen
Das sich aus § 19 Wahlordnung ergebende Einsichtnahmerecht gewährt der Arbeitgeberin einen eigenständigen Anspruch, um die Ordnungsmäßigkeit der Wahl im positiven wie negativen Sinne zu prüfen und ggf. festgestellte Fehler der Prüfung im Wahlanfechtungsverfahren vor dem ArbG vorzutragen. Als Anfechtungsberechtigte kann die Arbeitgeberin dieses Verfahren durch eigenes Vorbringen gestalten. Dies erfordert aber zunächst die Möglichkeit, in die Wahlakten – unabhängig von einer gerichtlichen Beweisaufnahme – Einsicht zu nehmen. Denn das Vorbringen der Arbeitgeberin soll nicht „ins Blaue“ hinein auf der Grundlage von Gerüchten und Vermutungen erfolgen. Da der Betriebsrat die Wahlunterlagen verwahrt, ist es schon aus Gründen der Parität geboten, dass auch der Arbeitgeber diese einsehen darf. Eigene Interessen des Betriebsrats werden nicht tangiert. Er ist lediglich Verwahrer der Unterlagen.
Praxistipp
Der Arbeitgeber hat uneingeschränkt ein Recht auf Einsichtnahme in solche Unterlagen, die das Wahlgeheimnis nicht berühren. Dies betrifft z. B. Vorschlagslisten mit den Stützunterschriften sowie die Anträge auf Erteilung von Briefwahlunterlagen und die Angaben dazu, wem Briefwahlunterlagen ausgehändigt wurden bzw. wem nicht und aus welchen Gründen dies nicht erfolgte. Diese Angaben lassen (noch) keine Rückschlüsse auf das Wahlverhalten zu.
Volker Stück
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