Corona: Quarantäne und Arbeitsunfähigkeit

§ 9 BUrlG; § 56 Abs. 1 IfSG; § 3 Abs. 1 EFzG

1. Für eine Nichtanrechnung von Urlaubstagen gemäß § 9 BUrlG bedarf es eines ärztlichen Zeugnisses. Eine behördliche Isolierungsanordnung ist nach dem Sinn und Zweck zum Nachweis nicht ausreichend, da keine Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers erfolgt.

2. Für eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG auf eine behördliche Isolierungsanordnung aufgrund der Infektion mit SARS-CoV-2 besteht mangels planwidriger Regelungslücke und vergleichbarer Sachverhalte kein Raum. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 führt nicht in jedem Fall zu einer Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers.

(Leitsätze des Gerichts)

ArbG Bonn, Urteil vom 7.7.2021 – 2 Ca 504/21

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Bild: grafikplusfoto/stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin für das Kalenderjahr 2020 insgesamt fünf Urlaubstage nachzugewähren. Der Arbeitgeber betreibt ein Logistikzentrum in X. Die Klägerin ist dort seit April 2013 beschäftigt. Sie hatte im Zeitraum vom 30.11.2020 bis zum 12.12.2020 Erholungsurlaub. Aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus musste sich die Arbeitnehmerin auf behördliche Anordnung vom 27.11.2020 der Stadt F in der Zeit vom 27.11.2020 bis zum 7.12.2020 in häusliche Quarantäne begeben. Die Arbeitnehmerin wies keine Krankheitssymptome auf. Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung lag für diesen Zeitraum nicht vor. Die Arbeitnehmerin forderte den Arbeitgeber schriftlich auf, ihr für den betroffenen Zeitraum ihre Urlaubstage gutzuschreiben, was dieser ablehnte. Die Arbeitnehmerin klagte deshalb auf die Nachgewährung von fünf Urlaubstagen durch den Arbeitgeber. Sie meint, im Zeitraum vom 1.12.2020 bis zum 7.12.2020 sei sie an SARS-CoV-2 erkrankt, wodurch sie gehindert gewesen sei, ihre Arbeitsleistung für die Beklagte zu erbringen. Bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit solle dem Arbeitnehmer sein Entgelt- und Urlaubsanspruch erhalten bleiben. Der Arbeitgeber meint, es habe keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorgelegen und eine solche sei auch nicht durch ärztliches Zeugnis nachgewiesen.

Entscheidung

Das ArbG Bonn wies die Klage ab. Die Voraussetzungen von § 9 BUrlG für die Nachgewährung von Urlaubstagen bei einer Arbeitsunfähigkeit lagen nicht vor. Nach § 9 BUrlG werden die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit nicht auf den Jahresurlaub angerechnet, wenn ein Arbeitnehmer erkrankt. Es besteht mithin nur dann ein Anspruch auf erneute Gewährung von Urlaubstagen, wenn der Arbeitnehmer durch ärztliches Zeugnis seine Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen hat. Ohne Attest besteht kein Anspruch auf Nachgewährung der betroffenen Urlaubstage (vgl. ErfK-Gallner, 21. Aufl. 2021, § 9 BUrlG, Rz. 5; Boecken/Düwell/Diller/Hanau-Düwell, 1. Aufl. 2016, § 9 BUrlG, Rz. 20). Hintergrund dieser Regelung ist nicht nur die Vorbeugung gegen Missbrauch zulasten des Arbeitgebers (ErfK-Gallner, 21. Aufl. 2021, § 9 BUrlG, Rz. 5). Vielmehr obliegt auch die Beurteilung, ob eine Erkrankung im Einzelfall aufgrund der Ausgestaltung des individuellen Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers zu einer Arbeitsunfähigkeit führt, der ärztlichen Beurteilung (BAG, Urt. v. 15.12.1987 – 8 AZR 647/86, Rz. 14). Die Klägerin hat ihre Arbeitsunfähigkeit jedoch nicht durch ein ärztliches Zeugnis nachgewiesen. Eine behördliche Quarantäneanordnung steht einem ärztlichen Zeugnis über die Arbeitsunfähigkeit nicht gleich. Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers obliegt alleine dem behandelnden Arzt, nicht aber der Stadt F. Gerade diese Beurteilung im Einzelfall anhand der konkret auszuübenden Tätigkeit kann weder die Stadt F. noch das Arbeitsgericht selbst leisten.

Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Änderung der „Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie: Covid-19-Pandemie“ vom 15.10.2020 ab dem 19.10.2020 bis jedenfalls zum 31.12.2020 war die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach telefonischer Anamnese bis zu einer Höchstdauer von 14 Tagen möglich. Damit wäre es der Klägerin auch möglich gewesen, auf telefonischem Weg eine Beurteilung ihrer Arbeitsfähigkeit durch ärztliches Zeugnis zu erlangen.

Auch eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG bei einer behördlichen Quarantäneanordnung aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus scheidet aus. Zum einen liegt schon keine planwidrige Regelungslücke vor, die Voraussetzung einer Analogie ist (BAG, Urt. v. 5.6.2014 – 6 AZN 267/14, Rz. 37). § 9 BUrlG ist eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, welche einer analogen Anwendung nicht zugänglich ist (LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.11.2010 – 11 Sa 1475/10, Rz. 16; Hein/Tophof, NZA 2021, S. 603). Zum anderen liegt auch kein mit einer Arbeitsunfähigkeit vergleichbarer Sachverhalt vor, denn eine Erkrankung mit dem Coronavirus führt nicht zwingend und unmittelbar zu einer Arbeitsunfähigkeit i. S. d. § 9 BUrlG bzw. § 3 Abs. 1 EFZG, insbesondere bei einem symptomlosen Verlauf (Hein/Tophof, NZA 2021, S. 601, 604).

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Konsequenzen

Eine Corona-Infektion oder eine Quarantäneanordnung einer Behörde begründen keine Arbeitsunfähigkeit i. S. d. § 9 BUrlG (Urlaubsgutschrift) bzw. § 3 Abs. 1 EFZG (Entgeltfortzahlung). Dazu bedarf es vielmehr eines ärztlichen Attests gem. den AU-Richtlinien, zzt. i. d. F. v. 17.6.2021 (BAnz AT 15.7.2021 B3). Ebenso entschied das ArbG Halle (Urt. v. 23.6.2021 – 4 Ca 285/21) sowie das ArbG Bremen-Bremerhaven (Urt. v. 8.6.2021 – 6 Ca 6035/21).

Ist der Arbeitnehmer aber wegen Kopf- und Magenschmerzen nach ärztlichem Attest arbeitsunfähig erkrankt, so schließt eine nach einem positiven Corona-Test behördlich angeordnete Quarantäne seinen Entgeltfortzahlungsanspruch nicht aus. Ein erstattungsfähiger Entschädigungsanspruch nach § 56 Abs. 1 IfSG besteht gerade nicht für nachweislich arbeitsunfähig Erkrankte, sondern nur für Ausscheider, Ansteckungs- und Krankheitsverdächtige (ArbG Aachen, Urt. v. 30.3.2021 – 1 Ca 3196/20).

Praxistipp

Wenn ein Arbeitnehmer trotz Erkrankung mit SARS-CoV-2 und behördlicher Isolationsanordnung (§ 31 IfSG) weiterhin seine Arbeitsleistung von einem häuslichen Arbeitsplatz erbringen kann und keine ärztliche AU-Bescheinigung vorliegt, hat er im Homeoffice mobil zu arbeiten und verliert sonst nach § 326 Abs. 1 BGB seinen Vergütungsanspruch. Dann besteht auch kein Verdienstausfall i. S. d. subsidiären § 56 IfSG, den sich der Arbeitgeber erstatten lassen könnte.

Volker Stück

Volker Stück
Rechtsanwalt, Lead Expert Labour Law & Mitbestimmung, BWI GmbH, Bonn
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· Artikel im Heft ·

Corona: Quarantäne und Arbeitsunfähigkeit
Seite 58
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