Reichweite desTarifvorrangs bei Entgeltbestimmungen
Problempunkt
Die Beklagte ist ein Einzelhandelsunternehmen mit mehreren Vertriebsfilialen und einer Zentrale mit Logistik und Lager in Hamburg, in welcher der Kläger als Lagerist beschäftigt ist. Bis April 2008 war sie tarifgebundenes Mitglied im Landesverband des Hamburger Einzelhandels e. V., der mit Verdi Tarifverträge geschlossen hat. Das Entgelt des Klägers setzte sich zusammen aus einem Grundgehalt i. H. v. 2.521,70 Euro und einer Zulage i. H. v. 109,08 Euro auf Grundlage einer Betriebsvereinbarung 1997 (BV 1997). Diese sah in § 9 ein jährliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld von je 62,5 % des Gehalts vor und regelte in § 17 Gehaltsgruppen und -höhen. Die Beklagte kündigte die BV 1997 zum 31.12.2014. Sie teilte am 31.7.2015 dem Betriebsrat mit, dass sie die von den Tarifvertragsparteien mit Wirkung ab 1.8.2015 vereinbarte tarifliche Entgelterhöhung nicht an die Arbeitnehmer weitergeben werde; zudem werde kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld mehr gezahlt.
Der Kläger verlangte die Vergütungsdifferenz sowie Weihnachtsgeld für 2015 und Urlaubsgeld für 2016. Er meinte, in der BV 1997 liege eine Gesamtzusage, jedenfalls sei sie in eine solche umzudeuten. Das ArbG hat die Klage abgewiesen, das LAG ihr hinsichtlich Urlaubs-/Weihnachtsgeld stattgegeben.
Entscheidung
Nach dem BAG ist die Klage unbegründet.Ein Zahlungsanspruch folgt nicht aus den Gehaltsregelungen des § 17 der gekündigten BV 1997. Diese sind – ungeachtet einer etwaigen Nachwirkung – wegen Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Fehlt es an der normativen Geltung der Betriebsvereinbarung, steht das auch ihrer Nachwirkung von vornherein entgegen (BAG, Beschl. v. 9.11.2014 – 1 ABR 19/13, NZA 2015, S. 368). Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Tarifüblich ist eine Regelung, wenn der Regelungsgegenstand in der Vergangenheit in einem einschlägigen Tarifvertrag enthalten war und die Tarifvertragsparteien über ihn Verhandlungen führen (BAG, Urt. v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, AuA 12/13, S. 712). § 77 Abs. 3 BetrVG schützt die Tarifautonomie sowie Koalitionen und soll verhindern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend – und sei es inhaltsgleich – in Betriebsvereinbarungen geregelt werden (BAG, Urt. v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, S. 990). Da die Beklagte in den Geltungsbereich des Manteltarifvertrags für den Hamburger Einzelhandel fällt und § 17 BV 1997 die einschlägigen Tarifgehälter und -löhne eigenständig definiert und in einer absoluten Höhe festlegt, sind diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt. Die Regelung in § 6 Nr. 1 Halbsatz 2 MTV HH, wonach die in den besonderen Tarifverträgen geregelten Entgelte „Mindestsätze“ sind, enthält auch keine Öffnungsklausel i. S. v. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG zugunsten betrieblicher Regelungen zur Entgelthöhe.
Die unwirksame BV 1997 kann auch nicht in einen vertraglichen Anspruch auf eine inhaltsgleiche Gesamtzusage umgedeutet werden (§ 140 BGB). Da sich der Arbeitgeber von einer Betriebsvereinbarung jederzeit durch Kündigung lösen kann, von einer vertraglichen Gesamtzusage jedoch nur über Änderungsvereinbarung oder Änderungskündigung, kann ein hypothetischer Wille des Arbeitgebers, sich unabhängig von der Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung auf Dauer einzelvertraglich zu binden, nur in Ausnahmefällen angenommen werden (BAG, Urt. v. 23.2.2016 – 3 AZR 960/13, AuA 5/17, S. 316). Ein solcher Rechtsbindungswille der Beklagten war vorliegend nicht erkennbar, auch nicht aus der Präambel der BV 1997 oder der Aushändigung der BV 1997 mit dem Arbeitsvertrag an den Kläger.
Auch eine Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG i. V. m. § 611 BGB trägt die Differenzvergütung nicht. Zwar kann ein Arbeitnehmer in Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung bei einer mitbestimmungswidrigen Änderung der im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der zuletzt mitbestimmungsgemäß eingeführten Entlohnungsgrundsätze fordern (BAG, Urt. v. 25.4.2017 – 1AZR 427/15, NZA 2017, S. 1346). § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG greift hier jedoch nicht, da es nicht um abstrakt generelle Entgeltgrundsätze, sondern die absolute Höhe der Vergütung geht. Die Unwirksamkeit des Entgelts (§ 17 BV 1997) erstreckt sich nach § 139 BGB zwangsläufig auch auf das Weihnachts-/Urlaubsgeld, welches nach § 9 BV 1997 je 62,5 % beträgt.
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Konsequenzen
Die Betriebsparteien können wegen § 77 Abs. 3 BetrVG weder Bestimmungen über Tarifentgelte treffen noch über deren Höhe disponieren. Das gilt selbst dann, wenn die von ihnen getroffene Regelung für die Arbeitnehmer günstiger ist als diejenige der Tarifvertragsparteien (BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, NZA 2006, S. 1170). Die absolute Entgelthöhe gehört nach § 87 Abs.1 Nr. 10 BetrVG zudem nicht zur mitbestimmungspflichtigen betrieblichen Lohngestaltung, der allein die Verteilungsrelationen bzw. -gerechtigkeit betrifft.
Praxistipp
Betriebsräte versuchen häufig, eigene und bessere Bedingungen als die tariflichen per Betriebsvereinbarungen zu regeln. Dafür haben die Betriebsparteien wegen § 77 Abs. 3 BetrVG regelmäßig keine Kompetenz mit der Folge, dass derartige Regelungen unwirksam sind. Selbst wenn dem Arbeitgeber dies „klar“ war, kann – so das BAG (Rdnr.31) – daraus gerade kein weitergehender Rechtsbindungswille im Sinne einer Gesamtzusage entnommen werden.
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