Stufenzuordnung und Arbeitnehmerfreizügigkeit

§ 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L; Art. 45 Abs. 2 AEUV

Es verstößt nicht gegen die unionsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften, dass § 16 Abs. 2 TV-L die beim selben Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung gegenüber entsprechenden Zeiten bei anderen Arbeitgebern privilegiert, wenn Arbeitnehmer nur in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt werden und keine Qualifikationen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erworben haben.

BAG, Urteil vom 23.2.2017 – 6 AZR 843/15 und 244/16

1106
Bild: Kzenon/stock.adobe.com
Bild: Kzenon/stock.adobe.com

l Problempunkt

In beiden Parallelverfahren streiten die Parteien über die tarifliche Zuordnung der Kläger.

Im ersten Fall (6 AZR 843/15) ging es um die Anrechnung der Beschäftigungszeiten einer Erzieherin, welche ausschließlich aus einer Tätigkeit im Inland resultierten. Die seit dem 6.1.2014 bei dem beklagten Land als Erzieherin tätige Klägerin erhielt eine Vergütung nach Entgeltgruppe 8 Stufe 2 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Sie hatte einschlägige Berufserfahrung von über 13 Jahren bei anderen Arbeitgebern der Bundesrepublik gesammelt. Sie wollte festgestellt wissen, dass das beklagte Land verpflichtet war, sie nach Stufe 5 der Entgeltgruppe 8 TV-L zu vergüten.

Im Parallelverfahren (6 AZR 244/16) klagte ein Schulpsychologe, welcher ebenfalls einschlägige Berufserfahrung im Inland nachweisen konnte, jedoch weder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union noch im europäischen Wirtschaftsraum beschäftigt war oder dort eine Qualifikation erlangt hatte. Auch in diesem Fall unterlag das Arbeitsverhältnis dem TV-L.

l Entscheidung

Die Kläger waren aus Sicht des BAG zutreffend eingruppiert. Ihre Berufserfahrung war nicht zu berücksichtigen. Zwar hatten sie jeweils eine einschlägige Berufserfahrung bei anderen Arbeitgebern erworben. Diese waren aber nicht mit anrechnungsfähigen Zeiten mit dem beklagten Land gleichzustellen. Auf einen etwaigen Verstoß des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (Freizügigkeitsverordnung) konnten sich die Kläger nicht berufen, da diese Vorschriften nicht einschlägig waren. Da die Kläger nie in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union als in der BRD beschäftigt waren und in anderen Staaten auch keine Qualifikationen erworben hatten, fehlte es an dem erforderlichen Auslandsbezug der Sachverhalte. Art. 45 AEUV erfasst keine rein internen, auf einen Mitgliedstaat beschränkten Sachverhalte. Die rein hypothetische Möglichkeit der Kläger, das Recht auf Freizügigkeit auszuüben, reichte nicht aus.

Profitieren Sie vom Expertenwissen renommierter Fachanwält:innen, die Sie über aktuelle Entscheidungen des Arbeitsrechts informieren. Es werden Konsequenzen für die Praxis benannt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

l Konsequenzen

Das Arbeitsentgelt bei Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes richtet sich gem. § 15 Abs. 1 Satz2 TVöD/TV-L nach der Eingruppierung. Innerhalb einer Entgeltgruppe können dann bis zu sechs Stufen durchlaufen werden (§ 16 Abs. 1 TVöD/TV-L). Die Ermittlung der zutreffenden Stufe, auch Stufenzuordnung genannt, ist abhängig von der bereits zurückgelegten Beschäftigungszeit. § 16 Abs. 2 TV-L differenziert dabei danach, bei welchem Arbeitgeber die Vorbeschäftigungszeiten zurückgelegt wurden und privilegiert einschlägige Beschäftigungszeiten beim selben Arbeitgeber. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L berücksichtigt konkret mindestens einjährige einschlägige Berufserfahrung aus einem Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber vollständig, während mindestens einjährige einschlägige Berufserfahrung bei anderen Arbeitgebern gem. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L nur einen Anspruch auf die Zuordnung zu Stufe 2 bzw. 3 vermittelt. Insbesondere dann, wenn die Vorbeschäftigungszeiten bei einem Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegt wurden, stellt sich daher die Frage einer mittelbaren Diskriminierung.

Das BAG konnte in den vorliegenden Entscheidungen die Frage, ob § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L mit Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 Freizügigkeitsverordnung vereinbar ist, dahinstehen lassen. Die Sachverhalte wiesen nicht den erforderlichen Auslandsbezug auf. Die rein hypothetische Möglichkeit einer Verletzung der Kläger war nicht ausreichend. Damit hat das Gericht die Frage, inwieweit § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L zu einer mittelbaren Diskriminierung führt und damit gegen das europäische Freizügigkeitsrecht verstößt, offengelassen. Das BAG deutet in seinen Entscheidungen aber an, dass bei entsprechendem Sachverhalt ein Vorabentscheidungsersuchen nötig werden würde.

Der EuGH hatte in der Sache Schöning-Kougebetopoulou (Urt. v. 15.1.1998 – C-15/96) Bestimmungen des deutschen BAT für unwirksam gehalten, die Zeiten in einem vergleichbaren Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats von einem Zeitaufstieg in einer bestimmten Vergütungsgruppe ausnahmen, während Zeiten in einer vergleichbaren Betätigung in der Bundesrepublik im Unterschied dazu angerechnet wurden. Der Unterschied zu § 16 Abs.2 Satz 2 TV-L liegt darin, dass nach letzter Vorschrift auch Zeiten in der Bundesrepublik bei einem anderen Arbeitgeber nicht anrechnungsfähig sind. Insofern hatte das BAG bereits entschieden, dass diese Unterscheidung zwischen Beschäftigungszeiten bei verschiedenen Arbeitgebern in § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L nicht diskriminierend ist (BAG, Urt. v. 23.9.2010– 6 AZR 180/09). Die Frage der Vereinbarkeit des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L mit dem europäischen Recht auf Freizügigkeit ist inzwischen Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des BAG (v. 18.1.2018 – 6 AZR 232/17 [A]).

Praxistipp

Die Frage, ob § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar ist, ist weiterhin offen. Ähnliche Fragen zur Vereinbarkeit mit dem Europarecht stellen sich etwa für § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund). Auch hier wird bei der Stufenzuordnung zwischen Arbeitnehmern differenziert, die ihre einschlägige Berufserfahrung bei demselben Arbeitgeber erworben haben und Arbeitnehmern, die ihre Berufserfahrung anderweitig erworben haben. Arbeitgeber sollten die Entwicklung in der Rechtsprechung hierzu im Blick behalten.

Dr. Ingo Plesterninks

Dr. Ingo Plesterninks
VP HR Mauser International Packaging Solutions, Brühl, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bonn
AttachmentSize
Beitrag als PDF herunterladen798.74 KB

· Artikel im Heft ·

Stufenzuordnung und Arbeitnehmerfreizügigkeit
Seite 620
Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Die Klägerin ist bei dem beklagten Arbeitgeber seit dem Jahr 2012 nach dem TV-L beschäftigt. Bis zum Ende der Befristung im Jahr 2017

Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Das BAG hatte in einem zweiten Urteil, das ebenfalls am 15.10.2021 erging (6 AZR 268/20), zur Stufenzuordnung zu entscheiden. Es ging um

Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Die Parteien streiten im Zusammenhang mit einer Höhergruppierung über die zutreffende Stufenzuordnung. Das befristete Arbeitsverhältnis

Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Die Entgeltordnungen im öffentlichen Dienst sehen für zahlreiche Tätigkeitsmerkmale u.a. eine subjektive Voraussetzung vor, nämlich eine

Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Was ist einschlägige Berufserfahrung? Danach wird die Stufenzuordnung vorgenommen und die Unterschiede sind groß. Zwischen der Stufe 1 und

Frei
Bild Teaser
Body Teil 1

Die Klägerin begehrt die Anerkennung von Berufserfahrung zwecks Zuordnung zu einer höheren Entgeltstufe. Zunächst war sie in den Jahren