Überprüfung des Sanktionssystems für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren
Problempunkt
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG führten Fehler im Massenentlassungsverfahren bzw. eine fehlerhaft unterbliebene Massenentlassungsanzeige gnadenlos zur Unwirksamkeit der Kündigungen. Auch im vorliegenden Fall hatte der Insolvenzverwalter die Massenentlassungsanzeige unterlassen, weil er nach den von ihm zugrunde gelegten Zahlen eine Massenentlassungsanzeige für entbehrlich hielt. Das LAG Hamburg hatte dies mit Urteil vom 3.2.2022 (3 Sa 16/21) anders gesehen und die Kündigung aufgrund fehlender Massenentlassungsanzeige für unwirksam gehalten.
Das BAG sah sich allerdings zwischenzeitlich mit den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache (C-134/22) vom 30.3.2023 konfrontiert, der eine individualrechtliche Wirkung der Massenentlassungsrichtlinie ablehnte und eine rein kollektivrechtliche Wirkung der MERL – deren Umsetzung § 17 KSchG dient – gegeben sah.
Entscheidung
In den Verfahren 6 AZR 157/22, 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22 hat das BAG nun mit Beschluss vom 11.5.2023 die Verfahren bis zur Entscheidung des Vorlageverfahrens EuGH C-134/22 ausgesetzt. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem (Unwirksamkeit der Kündigung) stehe möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie vermittelt wird, und könnte darum unverhältnismäßig sein, so das BAG in seiner Pressemeldung zum Beschluss vom 11.5.2023.
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Konsequenzen
Folgt der EuGH den Anträgen des Generalanwalts und kommt das BAG zu dem Schluss, dass ohne individualrechtlichen Schutz der MERL sich auch § 17 KSchG nicht mehr im Hinblick auf einen individualrechtlichen Schutz auslegen lässt, dürfte die Wirksamkeit der Kündigung künftig nicht mehr vom Massenentlassungsverfahren beeinträchtigt werden. Eine unterbliebene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige würde also nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.
Dahingehend kann zumindest der Hinweis des BAG in der Pressemitteilung zu verstehen sein, wonach das vom BAG entwickelte Sanktionssystem unverhältnismäßig sein könnte.
Praxistipp
Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH final entscheidet und ob das BAG wirklich eine so tiefgreifende Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung vornimmt. Der bisherige Trend schien durch immer neue Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige eher auf eine stete Verschärfung zu deuten. Sowohl die bisherige EuGH-Rechtsprechung als auch die Schlussanträge des Generalanwalts haben stets betont, dass Mitgliedstaaten frei darin sind, schärfere Sanktionen zu erlassen. Das Hintertürchen für eine Beibehaltung der bisherigen deutschen Rechtsprechung ist also noch nicht geschlossen. Bis zur finalen Klärung tun Unternehmen gut daran, weiterhin die nötige Mühe und Sorgfalt in die Massenentlassungsanzeige zu investieren. Fehler können hier nach wie vor teuer werden!
Dr. Anne Dziuba
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