Wegezeiten – Mitbestimmung des Betriebsrats
Problempunkt
Die antragsstellende Arbeitgeberin erbringt Fahrdienstleistungen im öffentlichen Personennahverkehr in Berlin. Sie ist im kommunalen Arbeitgeberverband Berlin (KAV Berlin) organisiert. Die Dienste der Busfahrer und U-Bahnfahrer beginnen oder enden auf dem Betriebshof oder an festgelegten Ablöseorten auf der jeweiligen Strecke, an denen die Arbeitgeberin keine Rüststellen für das Umkleiden oder die Bereitstellung von Arbeitsmitteln vorhält. Die Fahrer sind daher verpflichtet, den Dienst mit bestimmten Arbeitsmitteln anzutreten, welche sie auf den Wegen zur und von der Arbeit bei sich tragen müssen. Dazu gehören u.a. diverse Dienstschlüssel, Warnwesten, Arbeitsschutzhandschuhe, Fahrerabrechnungsmodule sowie Geldwechsler.
Für die Arbeitgeberin gilt der Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin (TV-N Berlin) sowie speziell für die Nutzung von Dienstkleidung und das Mitführen von Arbeitsmitteln der insoweit vorrangige TV Pauschalentgelt. Danach wird der Aufwand für das Tragen von Dienstkleidung und das Mitführen von Arbeitsmitteln durch ein Pauschalentgelt abgegolten. Die damit verbundenen Zeiten zählen nicht zur regelmäßigen Arbeitszeit. Nach der bei der Arbeitgeberin geltenden BV Kleidungsordnung besteht keine Verpflichtung zum Tragen von Arbeitskleidung. Nachdem der Betriebsrat verlangt hatte, die Wegezeiten des Fahrpersonals von und zu den Einsatz-/Ablöseorten als Arbeitszeit zu berücksichtigen, hat die Arbeitgeberin ein Beschlussverfahren eingeleitet mit dem Ziel festzustellen, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht besteht.
Entscheidung
Das BAG lehnte ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ab. Nach Auffassung des ersten Senats sprach vieles dafür, dass die Wegezeiten schon nach dem TV Pauschalentgelt nicht zur Arbeitszeit gehörten. Jedenfalls sind die Zeiten von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück Teil des außerdienstlichen Bereichs privater Lebensführung und stellen damit keine Arbeitszeiten dar. Zur Arbeitszeit werden die Wegezeiten auch nicht dadurch, dass die Fahrer Arbeitsmittel bei sich führen müssen, da die Arbeitgeberin keine innerbetrieblichen Rüststellen vorhält. Das Schutzkonzept des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ist rein zeitbezogen. Um Arbeitszeit kann es sich etwa dann handeln, wenn der Arbeitnehmer bei einer Arbeitsaufnahme im Betrieb innerbetriebliche Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen muss oder dann, wenn er ausgehend vom Betrieb auswärtige Betriebsstätten oder Kunden aufzusuchen hat. Die Notwendigkeit, die Wege zur Arbeit mangels betrieblich vorgehaltener Umkleidestellen in Arbeitskleidung zurücklegen zu müssen, führt ebenfalls nicht zur Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Vorliegend bestand darüber hinaus auch keine Pflicht zum Tragen der Dienstkleidung. Die Frage der Vergütungspflicht spielt i. Ü. für die Einordnung als Arbeitszeit im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne keine Rolle.
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Konsequenzen
Die Frage, ob Wege- oder Umkleidezeiten Arbeitszeit sind, hat das BAG in den letzten Jahren wiederholt beschäftigt. Der Begriff der Arbeitszeit i. S. v. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ist weder deckungsgleich mit der vergütungspflichtigen Arbeitszeit noch mit der öffentlich-rechtlichen Arbeitszeit nach dem ArbZG. Arbeitszeit im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne ist die Zeit, während derer der Arbeitnehmer die von ihm in einem konkreten zeitlichen Umfang geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich zu erbringen hat und richtet sich nach den bestehenden vertraglichen oder tarifvertraglichen Vereinbarungen.
Dabei unterliegt die Dauer der Arbeitszeit nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats. Ebenso wenig ist die rechtliche Qualifikation von Zeiten als Arbeitszeit möglicher Gegenstand betrieblicher Regelungen. Damit ist die Festlegung der regelmäßigen Dauer der Arbeitszeit oder ihrer Höchstdauer grundsätzlich vom Mitbestimmungsrecht nicht erfasst. Für die arbeitszeitrechtliche Qualifizierung von Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit hat das BAG entschieden, dass diese Frage nicht der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 2, 3 BetrVG unterliegt (BAG, Beschl. v. 22.7.2003 – 1 ABR 28/02). Analog dazu könnte daher ebenso die Bewertung von Umkleide- und Wegezeiten als Arbeitszeit von der betrieblichen Mitbestimmung ausgeschlossen sein. Das Gericht konnte diese Frage in seiner aktuellen Entscheidung dahinstehen lassen, da die betroffenen Zeiten als Teil der privaten Lebensführung ohnehin keine Arbeitszeit sein konnten.
Soweit es um die Frage der Vergütung der Arbeitszeit geht, können die Arbeitsvertrags- und Tarifvertragsparteien Umkleide- und Wegezeiten anders als Vollarbeitszeit behandeln und diese geringer vergüten, pauschalieren oder von einer Vergütung ganz absehen (BAG, Urt. v. 26.10.2016– 5 AZR 168/16, AuA 5/17, S. 309). Im Hinblick auf den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff zeigt die vorliegende Entscheidung, dass durch entsprechende vertragliche bzw. tarifvertragliche Pauschalierungsregelungen das Arbeitszeitvolumen den Betriebsparteien vorgegeben und ein betriebliches Mitbestimmungsrecht ausgeschlossen wird.
Praxistipp
Der Begriff der Arbeitszeit in betriebsverfassungsrechtlicher, vergütungsrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Hinsicht wird jeweils unterschiedlich nach dem Sinn und Zweck der zugrundeliegenden Regelungen bestimmt. Bei der rechtlichen Qualifizierung etwa von Umkleide- und Wegezeiten, Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst sollte daher genau nach dem Kontext der Fragestellung unterschieden und die Rechtsprechung für den jeweiligen Arbeitszeitbegriff beachtet werden.
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