Fatale Folgen fehlender BR-Konsultation vor Massenentlassungen

Wurde vor einer Massenentlassung kein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt oder fehlen bei der Massenentlassungsanzeige die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG erforderlichen Angaben und Unterlagen, führt dies zur Unwirksamkeit der Kündigungen.

(Leitsatz der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 21. März 2013 – 2 AZR 60/12

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Bild: AlcelVision/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Arbeitgeber teilte dem Betriebsrat mit, dass er den Betrieb wegen des Wegfalls des einzigen Auftrags liquidieren und allen Mitarbeitern kündigen werde. Ohne weitere Beratung übergab er dem Gremium sogleich die Anhörungen zu den geplanten Kündigungen, denen der Betriebsrat widersprach. Der Massenentlassungsanzeige fügte das Unternehmen lediglich die Widersprüche des Betriebsrats bei. Die Agentur für Arbeit bestätigte ihm, es habe die Anzeige "vollständig und somit wirksam erstattet" und genehmigte die Entlassungen. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber die Arbeitsverhältnisse.

Das BAG hatte über die dagegen von einem Arbeitnehmer erhobene Kündigungsschutzklage zu befinden.

Entscheidung

Das Gericht gab dem Beschäftigten Recht. Die Kündigung ist gem. § 134 BGB unwirksam, weil der Arbeitgeber weder das nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt noch eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erstattet hat.

Beide Elemente enthalten jeweils eigenständige Wirksamkeitserfordernisse für die Kündigungen. Anders ist laut BAG dem Schutzgedanken des § 17 KSchG, der der Umsetzung der europäischen Massenentlassungsrichtlinie dient, keine praktische Wirksamkeit zu verschaffen. Weder Fehler des Konsultationsverfahrens noch der Massenentlassungsanzeige können schließlich durch einen Bescheid der Agentur für Arbeit geheilt werden, auch wenn dieser die Vollständigkeit der Anzeige bestätigt und die Kündigungen genehmigt.

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Konsequenzen

Die Durchführung von Massenentlassungen stellt in Betrieben mit Betriebsräten hohe Anforderungen an das planvolle Vorgehen und die Sorgfalt des Arbeitgebers. Die Entscheidung verdeutlicht, dass dieser nicht nur die Anforderungen des § 1 KSchG, der Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG und ggf. des Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahrens nach §§ 111, 112 BetrVG beachten muss, sondern auch die Verfahrens- und Formvorschriften des Massenentlassungsrechts gem. § 17 KSchG nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Dazu zählen u. a. die Vorschriften zum Konsultationsverfahren und zum notwendigen Inhalt der Massenentlassungsanzeige:

So enthält § 17 Abs. 2 KSchG neben dem Erfordernis der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats eine Pflicht zur Beratung, die über eine bloße Anhörung des Gremiums deutlich hinausgeht. Das Unternehmen muss mit ihm über die Entlassungen bzw. die Möglichkeiten ihrer Vermeidung verhandeln, ihm dies zumindest anbieten. Dem Arbeitgeber steht es zwar frei, diese gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Pflichten mit denen aus § 102 BetrVG und § 111 BetrVG gleichzeitig zu erfüllen, soweit sie übereinstimmen. Er muss in diesem Fall aber hinreichend klarstellen, dass er mehreren Pflichten gleichzeitig nachkommen will und benennen, welche das sind.

Der Massenentlassungsanzeige selbst muss nach der Gesetzessystematik des § 17 KSchG entweder eine Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen oder ein Interessenausgleich mit Namensliste beigefügt werden. Liegt

beides nicht vor, kann der Arbeitgeber alternativ glaubhaft machen, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat und der Agentur für Arbeit den Stand der Beratungen darlegen.

Missachtet das Unternehmen eine dieser Pflichten oder unterlaufen ihm hierbei Fehler, führt dies zur unheilbaren Unwirksamkeit der Kündigungen. Selbst ein Unzulänglichkeiten ignorierender Bescheid der Agentur für Arbeit hilft weder über Fehler der Massenentlassungsanzeige noch über „Schlamperei“ im vorgelagerten Konsultationsverfahren hinweg.

Praxistipp

Damit Kündigungen im Rahmen von Massenentlassungen nicht an Form- und Verfahrensfehlern scheitern, empfiehlt sich das strikte Einhalten des folgenden „Fahrplans“:

> Schriftliche (!) Information des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG, z. B. durch Zuleitung eines Entwurfs der Massenentlassungsanzeige, mit Aufforderung zur Beratung, idealerweise bereits mit konkreten Terminvorschlägen; der Erhalt sollte vom Betriebsrat unter Datumsangabe quittiert werden

> Ankündigung der bevorstehenden Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit durch Zuleiten der dem Betriebsrat übergebenen und von diesem quittierten Information und Verhandlungsaufforderung

> Ggf. weiter gehende Information des Betriebsrats nach §§ 111, 112 BetrVG und Aufforderung zu Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen.

> Konsultation mit dem Betriebsrat über Möglichkeiten zur Vermeidung oder Einschränkung der Massenentlassung und über Milderung ihrer Folgen gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG.

> Ggf. Verhandeln eines Interessenausgleichs und Sozialplans.

> Erstattung der Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit unter Beifügen der Stellungnahme des Betriebsrats, eines Interessenausgleichs mit Namensliste oder unter Darlegung des Stands der Beratungen; die Anzeigenerstattung sollte vorsorglich in jedem Fall frühestens zwei Wochen nach Information des Gremiums nach § 17 Abs. 2 KSchG erfolgen. Der Erhalt der Anzeige sollte quittiert werden.

> Übergabe der Anhörungen nach § 102 BetrVG an den Betriebsrat.

> Nach Ablauf der Wochenfrist bzw. nach abschließender Stellungnahme des Betriebsrats zu den Kündigungen: Ausspruch der Kündigungen.

Die Zusammenfassung einzelner Schritte – z. B. die gemeinsame Beratung mit dem Betriebsrat nach § 17 KSchG und nach § 111 BetrVG – ist grundsätzlich möglich und in der Praxis auch häufig vorteilhaft. Der Arbeitgeber sollte in diesem Fall aber genau klarstellen, welche Pflichten er mit seinem Handeln gerade erfüllen will.

RAin und FAin für Arbeitsrecht Dr. Corinne Klapper, Beiten Burkhardt Rechtsanwaltsgesellschaft, München

Redaktion (allg.)

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