Verfall von tariflichem Mehrurlaub wegen Arbeitsunfähigkeit

1. Die Tarifvertragsparteien können für tariflichen Mehrurlaub, der über den unionsrechtlich verbürgten Urlaub hinausgeht, vom Gesetz abweichende Verfallfristen vereinbaren.

2. Die Auslegung des Tarifvertrags muss dann ergeben, dass vom grundsätzlichen Gleichlauf zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub abgewichen werden soll. Das ist der Fall, wenn der Tarifvertrag entweder zwischen gesetzlichem Urlaub und tariflichem Mehrurlaub unterscheidet oder sowohl für Mindest- als auch für Mehrurlaub wesentlich von § 7 Abs. 3 BurlG abweichende Übertragungs- und Verfallsregelungen bestimmt.

(Leitsätze der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 12. April 2011 – 9 AZR 80/10

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Problempunkt

Die Parteien stritten über den Fortbestand von Urlaubsansprüchen eines Arbeitnehmers, der seinen im Jahr 2007 entstandenen Urlaub aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis Ende April 2008 nicht vollständig nehmen konnte.

Das Gesetz sieht in § 7 Abs. 3 BUrlG vor, dass Erholungsurlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr zu gewähren ist. In Ausnahmefällen lässt er sich jedoch auf die ersten drei Monate des Folgejahres übertragen. Urlaubsansprüche, die der Mitarbeiter innerhalb dieser Frist nicht nimmt, verfallen. Eine Ausnahme besteht allerdings, wenn ein Arbeitnehmer seinen Urlaub nicht fristgerecht antreten konnte, weil er krankheitsbedingt arbeitsunfähig war. Hier hat sich die Rechtslage nach der Schultz-Hoff- Entscheidung des EuGH (Urt. v. 20.1.2009 - C-350/06, AuA 5/09, S. 276 ff.) geändert: In diesem Fall steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einem Verfall der gesetzlichen Mindesturlaubsansprüche entgegen. Mittlerweile legt auch das BAG § 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahingehend aus, dass der gesetzliche Mindesturlaub dann nicht verfällt (Urt. v. 24.3.2009 - 9 AZR 983/07, AuA 6/10, S. 375). Die Entscheidung des BAG bezog sich jedoch nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen bei einer Fünf-Tage-Woche, nicht auf den tariflichen Mehrurlaub. Bereits in dem Urteil hatte das BAG klargestellt, dass die Tarifvertragsparteien andere Verfallfristen für tariflichen Mehrurlaub vereinbaren können. §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 1 BUrlG i. V. m. § 134 BGB stehen nur einer abweichenden Regelung im Hinblick auf den Mindesturlaub entgegen. Gibt es allerdings keine abweichende Vereinbarung, ist grundsätzlich ein "Gleichlauf" der gesetzlichen und vertraglichen Urlaubsansprüche anzunehmen (z. B. BAG, Urt. v. 4.5.2010 - 9 AZR 183/09, AuA 3/11, S. 182; Urt. v. 23.3.2010 - 9 AZR 128/09, AuA 5/11, S. 312). Ob eine abweichende Regelung vorliegt, ist durch Auslegung des Tarifvertrags zu ermitteln. Es sind deutliche Anhaltspunkte für einen abweichenden Regelungswillen der Tarifparteien erforderlich. Welche Voraussetzungen hierfür vorliegen müssen, war bislang nicht höchstrichterlich geklärt. Die Instanzgerichte erachteten teilweise - in Anlehnung an die Entscheidung des BAG vom 23.3.2010 (9 AZR 128/09, a. a. O.) - bereits Regelungen, die wesentlich vom gesetzlichen Urlaubsregime an sich abweichen, als ausreichend (LAG Hamm, Urt. v. 24.2.2011 - 16 Sa 727/10; LAG Düsseldorf, Urt. v. 20.1.2011 - 11 Sa 1493/10).

Im vorliegenden Fall stellten die Vorinstanzen fest, dass die gesetzlichen und tariflichen Urlaubsansprüche des Klägers nicht verfallen sind. Der Arbeitgeber griff die Entscheidung in der Revision lediglich im Hinblick auf den tariflichen Mehrurlaub an.

Entscheidung

Das BAG hielt den tariflichen Mehrurlaub ebenfalls nicht für verfallen. Es stellte zwei Kriterien auf, wann eine eigenständige, von der gesetzlichen Verfallsregelung abweichende Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vorliegt:

?  Zum einen ist dies der Fall, wenn der Tarifvertrag ausdrücklich zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tarifvertraglichem Mehrurlaub unterscheidet.

? Zum anderen reicht es auch, dass die tariflichen Regelungen für Mindest- und Mehrurlaub wesentlich von den Übertragungs- und Verfallsregelungen des § 7 Abs. 3 BUrlG abweichen.

Vorliegend unterschied der anwendbare Tarifvertrag nicht zwischen gesetzlichem und tariflichem Urlaub. Zudem entsprach seine Verfallsregelung weitestgehend § 7 Abs. 3 BUrlG: „Nicht genommener Erholungsurlaub verfällt ohne Anspruch auf Abgeltung am 31.3. des folgenden Jahres, frühestens jedoch sechs Monate nach Beendigung der Wartezeit.“ Die Tarifvertragsparteien hatten daher nach Ansicht des BAG keine von den gesetzlichen Verfallsregelungen abweichenden Vereinbarungen getroffen. Allein, dass sich die Regelung vom gesetzlichen Urlaubsregime an sich unterscheidet, genügt nicht. Die Regelung muss gerade im Hinblick auf die Übertragungs- und Verfallfristen abweichen.

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Konsequenzen

Die vom BAG nun festgelegten Kriterien, um einen abweichenden Regelungswillen der Tarifvertragsparteien zu bestimmen, sind eng umrissen. Allein, dass die Vorschriften allgemein von denen des BUrlG abweichen, reicht nicht. Die Tarifvertragsparteien müssen die Abweichung vielmehr in Bezug auf das gesetzliche Fristenregime vereinbart haben. Notwendig sind eigenständige Regelungen, die sich von denen des BUrlG zu Übertragung und Verfall des Urlaubsanspruchs deutlich unterscheiden. Daher wird in den meisten älteren Tarifverträgen ein solcher abweichender Regelungswille nicht festzustellen sein. Der tarifvertragliche Mehrurlaub wird daher bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit i. d. R. nicht verfallen.

Praxistipp

Wollen die Tarifparteien für den Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Verfallfristen für den tariflichen Mehrurlaub vereinbaren, müssen sie dies zukünftig klar regeln. Hierfür ist erforderlich, ausdrücklich zwischen Mindest- und Mehrurlaub im Tarifvertrag zu unterscheiden.

RAin Dr. Julia Reinsch, Partnerin bei Hoffmann Liebs Fritsch & Partner, Düsseldorf

Redaktion (allg.)

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