Ausgangssituation
Der Fachkräftemangel und steigende Krankenstatistiken führen in vielen Unternehmen dazu, über eine – wie auch immer etikettierte – Anwesenheitsprämie nachzudenken. Da Mitarbeiter, Betriebsräte und Gewerkschaften dem jedoch eher skeptisch gegenüberstehen, sind Konflikte bei diesem sehr stark polarisierenden und emotionalen Thema vorprogrammiert. Wenn Unternehmen sich dem Thema überdurchschnittlich hoher Krankenstand – im Benchmarking mit vergleichbaren Unternehmen, Standorten oder Produktionswerken – widmen, sollte das zum einen mit sehr viel Fingerspitzengefühl geschehen und zum anderen in einem Kamingespräch ein gemeinsames Problemverständnis zwischen Management und Betriebsrat formuliert werden. Die Erfahrung zeigt, dass es ohne ein gemeinsames Problemverständnis – man spricht heute gern von Herausforderungen – keine gemeinsame nachhaltige Lösung gibt.
Benchmarking gezielt vornehmen
Der Vergleich der Krankenstatistiken mit anderen Unternehmen oder Standorten im Unternehmen ist zum einen auf der gleichen Basis, d. h.beispielsweise für die Dauer der Lohnfortzahlung oder auch unter Einbeziehung von Langzeiterkrankten, vorzunehmen. Zum anderen sind die in der Übersicht aufgeführten Rahmenbedingungen bei der Auswahl der Benchmarking-Partner für einen aussagefähigen Vergleich angemessen zu berücksichtigen. Ist das nur bedingt möglich, sind die unterschiedlichen Rahmenbedingungen spätestens bei der Interpretation der dem Benchmarking zugrunde liegenden Zahlen einzubeziehen, was leider nicht selten konfliktreich und meist sehr emotional verläuft.
Der Vergleich der Krankheitsquote von bspw. mehreren Altenheimen ist auf den ersten Blick einfach. Es stellt sich jedoch beim Vergleich innerhalb eines bundesweit arbeitenden Unternehmens die Frage, ob die Statistiken tatsächlich vergleichbar sind, weil die regionalen Arbeitsmärkte sehr große Unterschiede aufweisen. Hier kann sich ein Vergleich in der Region anbieten, wenn z. B. Branchen- oder insbesondere Arbeitgeberverbände, aber auch Gewerkschaften über entsprechende statistische Daten verfügen. Bei der Krankheitsquote in einem Krankenhaus kann es interessant sein, für verschiedene Mitarbeitergruppen eigene Statistiken anzufertigen. Bei der Gestaltung einer Anwesenheitsprämie ist abzuwägen, ob eine Differenzierung zwischen den Mitarbeitergruppen sinnvoll ist oder ob eine potenziell unterschiedliche mitarbeitergruppenbezogene Anwesenheitsprämie „zerredet“ wird.
Anwesenheitsprämien passgenau gestalten
§ 4a EntgFG gibt vor, dass der Arbeitgeber, der seinen Mitarbeitern zusätzlich zum vereinbarten Arbeitsentgelt eine Sondervergütung zahlt, diese für jeden Krankheitstag des Mitarbeiters um bis zu 25 % seines Tagesverdienstes reduzieren kann, bis die Sondervergütung aufgezehrt ist. Würde diese Regelung z. B. mit einem zusätzlichen Arbeitsentgelt von bspw. 50 % eines Monatsgehalts umgesetzt, dann wäre das legal, aber ggf. noch lange nicht zielführend, weil sie nicht passgenau auf die betriebliche Situation zugeschnitten ist.
Gemeinsames Vorgehen
In diesem sensiblen Kontext hat es sich – wie in vielen anderen Vergütungsprojekten – bewährt, dass nach einem Kamingespräch, in dem eine gemeinsame Sicht auf den Krankenstand und seine Senkung festgestellt wurde, die Anwesenheitsprämie in drei Schritten als „Good Pay“ erarbeitet wird:
- gemeinsam erarbeiten
- gerecht gestalten
- fair umsetzen
Es reicht bei dem sensiblen Thema nicht, dass – wie schon erlebt – der geschäftsführende Gesellschafter eines Unternehmens vom Betriebsrat fordert, den Krankenstand im Vier-Schicht-Betrieb von Frauen und Männern mittels einer Anwesenheitsprämie auf 6 % zu senken. Im vorliegenden Fall fragte der Betriebsrat den Unternehmer, ob er nicht wisse, dass der Krankenstand seit Jahren bei ca. 4,8 % liegt und eine Anwesenheitsprämie wenig Wirkung entfalten könnte. Im Gegenteil, die Loyalität der Mitarbeiter und ihre Identifikation mit dem Unternehmen würde untergraben.
An den nachfolgenden Beispielen werden drei passgenaue betriebliche Anwesenheitsprämien beschrieben.
Beispiel 1: Hersteller von Fahrzeugauflegern
Im Jahr 1996 regelte das EntgFG, dass Mitarbeiter statt bisher 100 % nur noch 80 % ihrer Vergütung als Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten oder alternativ, wenn sie eine Woche krank sind, einen Tag Urlaub nehmen müssen. Der Krankenstand ging bundesweit zurück. Zum 1.1.1999 wurde diese Regelung wieder aufgehoben. Der geschäftsführende Gesellschafter eines Unternehmens, das an drei Standorten Fahrzeugaufleger oder -hänger mit zusammen ca. 6.500 Mitarbeitern herstellt, wollte nach der Abschaffung dieser Regelung seinen Mitarbeitern wieder einen Anreiz geben, weniger krank zu sein. In harten Auseinandersetzungen mit den drei Betriebsräten, die sich nicht immer einig waren, wurde die freiwillige übertarifliche jährliche Gewinnbeteiligung ab 1999 in Abhängigkeit der Krankheitstage ausgezahlt. Ausgehend von der durchschnittlichen Ist-Jahresarbeitszeit wurde die durchschnittliche Gewinnbeteiligung errechnet. Den Mitarbeitern wurde dann entsprechend ihres Beitrags zum Unternehmenserfolg – gemessen in Anwesenheitstagen – ihre Gewinnbeteiligung ausgezahlt. Dabei wurde der Durchschnitt der Mitarbeitergruppen gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte, deren Krankheitsrisiko, insbesondere wegen desUnfallrisikos, bei der Arbeit unterschiedlich hoch ist, unterschieden. Der Krankenstand ging um ca. 1,5 % zurück.
Beispiel 2: Ambulanter Krankenpflegedienst
Der geschäftsführende Gesellschafter eines ambulanten Krankenpflegedienstes mit ca. 120 Mitarbeitern an drei Standorten ärgerte sich über die Beschäftigten, die im Umfeld des Wochenendes regelmäßig ein bis zwei Tage krank wurden und so ihre Wochenenden verlängerten. Im Kontext der Überarbeitung seines betrieblichen Vergütungssytems wurde mit dem Betriebsrat eine Anwesenheitsprämie erarbeitet. Die Mitarbeiter konnten im Halbjahr zusätzlich 200 Euro verdienen, wenn sie nicht krank wurden. Pro Krankheitstag wurden dem Mitarbeiter 20 Euro abgezogen, d. h. bei zehn Krankheitstagen war die Anwesenheitsprämie bei „null“. Langzeiterkrankten wurden somit maximal 200 Euro im Halbjahr abgezogen. Die Anwesenheitsprämie wurde von den Mitarbeitern nicht nur akzeptiert, sondern begrüßt, weil auch sie sahen, dass einige Kollegen gezielt „krankfeierten“. Der Krankenstand sank in den Jahren nach der Einführung 2004 um ca. 2 %. Aufgrund dieses Erfolgs gab der Unternehmer ab dem Jahr 2007 jedem Mitarbeiter, der im Kalenderjahr nicht krank war, zusätzlich drei Tage bezahlten Sonderurlaub.
Beispiel 3: Mittelständisches Unternehmen
Dieses Unternehmen arbeitet seit den 1970er-Jahren mit einem hohen Anteil von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in der drei- und z.T. vierschichtigen Produktion. Die Erfahrung zeigte, dass die Mitarbeiter gern ihren Jahresurlaub nutzten, um in die Heimat zu fahren und dort Urlaub zu machen. Nicht selten kam es am Urlaubsort zu mehrwöchigen Krankschreibungen, die den Urlaub verlängerten. Im Unternehmen fehlten diese Kollegen dann. Die geschäftsführenden Gesellschafter erarbeiteten eine Anwesenheitsprämie, die zum Inhalt hatte, dass jeder Mitarbeiter im Jahr fünf Tage krank sein konnte, ohne dass er einen Abzug von der zusätzlichen Anwesenheitsprämie bekam. Ab dem sechsten Krankheitstag wurde je Krankheitstag die Anwesenheitsprämie um 20 % des Tagesverdienstes reduziert. Wurde ein Mitarbeiter ein ganzes Jahr nicht krank, konnte er seine „nicht genommenen fünf Krankheitstage“ mit ins nächste Jahr nehmen. Wäre er dann im Folgejahr krank geworden, hätte er die ersten zehn Tage keine Reduktion der Anwesenheitsprämie gehabt. Diese bewährte Regelung wurde auch in den Haustarifvertrag, der im Jahr 2015 mit der IG Metall abgeschlossen wurde, übernommen.
Fazit
Ziel der beschriebenen Anwesenheitsprämien war es immer, eine passgenaue Lösung auf die betriebliche Situation – unter Beteiligung der Betroffenen – zu erarbeiten. Die Anwesenheitsprämie musste im betrieblichen Kontext als gerecht erlebt werden. Dabei war es wichtig, einen Anreiz für die Mitarbeiter zu schaffen und sie nicht zu bestrafen. Die Anwesenheitsprämie muss von der Unternehmenskultur getragen werden.
Eckhard Eyer
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