Arbeitszeiterfassung und Mindestlohn
Herr Dr. Bissels, was genau sah der angesprochene Gesetzentwurf vor?
Im Koalitionsvertrag hat sich die „Ampel“ darauf verständigt, dass der gesetzliche Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wird. Die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns hätte jedoch zur Folge gehabt, dass die Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro bei Minijobbern schneller erreicht wird – mit der Folge, dass deren Arbeitszeit hätte reduziert werden müssen, um die gesetzlichen Privilegierungen auch weiterhin in Anspruch nehmen zu können. Vor diesem Hintergrund sieht der Koalitionsvertrag gleichermaßen vor, dass die „Minijob-Grenze“ dynamisiert wird und sich an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientieren soll. Diese soll dementsprechend auf 520 Euro erhöht werden.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, in dem die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns in einem Schritt auf 12 Euro mit Wirkung zum 1.10.2022 erfolgen soll. Die im Koalitionsvertrag angekündigten Änderungen mit Blick auf die Anpassung der Geringfügigkeitsgrenze wurden „nachgeschoben“ – und zwar im „Zweiten Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“.
Über die beschäftigungspolitische Sinnhaftigkeit und insbesondere über die Verfassungsmäßigkeit der geplanten gesetzgeberischen Eingriffe zur Festlegung des Mindestlohns lässt sich bereits trefflich streiten – zum politischen Zankapfel werden die o. g. Gesetzentwürfe jedoch noch durch einen ganz anderen, insoweit verschärfenden Umstand. Die nach dem MiLoG bereits nach gegenwärtiger Rechtslage bestehende Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung sollte modifiziert werden (vgl. § 17 MiLoG). Zukünftig sollten nach dem MiLoG der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und elektronisch aufzubewahren sein. Die neuen Anforderungen sollen nach der Gesetzesbegründung dabei dem Bürokratieabbau durch Digitalisierung sowie der Verhinderung von Manipulationen bei der Arbeitszeitaufzeichnung dienen. Diese Änderungen werden im AEntG und im AÜG nachgezeichnet.
Welche Bedenken äußerten die Liberalen?
Wenig überraschend regte sich Widerstand gegen diese Verschärfung der arbeitgeberseitigen Pflichten bei der Arbeitszeiterfassung. Neben Minijobbern sollten nämlich sämtliche Arbeitnehmer erfasst werden, die in einem der in § 2a SchwarzArbG genannten Wirtschaftsbereiche/-zweige beschäftigt werden, zudem sämtliche Zeitarbeitnehmer sowie Arbeitnehmer, die in Branchen tätig sind, in denen Mindestentgelte nach dem AEntG gewährt werden müssen. Dies ging den Liberalen – vollkommen zu Recht – zu weit. Moniert wurde insbesondere, dass die vom BMAS geplante elektronische Arbeitszeiterfassung praktisch nicht umsetzbar sei, insbesondere wenn die von den neuen arbeitgeberseitigen Pflichten erfassten Arbeitnehmer an verschiedenen Arbeitsorten tätig werden müssen, vor allem Reinigungskräfte und Bauarbeiter. Hingewiesen wurde auch auf die erheblichen Kosten für Unternehmen, die mit der Anschaffung einer entsprechenden Software zur elektronischen Arbeitszeiterfassung und der notwendigen Endgeräte einhergehen. Zudem wurde von der FPD darauf verwiesen, dass zumindest die Forderung nach einer elektronischen Arbeitszeiterfassung im Koalitionsvertrag – insoweit richtig – nicht vereinbart worden ist.
Nun gibt es noch das Urteil des EuGH vom 14.5.2019 (C-55/18), welches die Europäische Arbeitszeitrichtlinie konkretisiert. Was sieht die Richtlinie vor und wie hat das Gericht entschieden?
Ausgangspunkt des o. g. Urteils des EuGH war eine Vorlagefrage des spanischen Nationalen Gerichtshofs. Das spanische Recht enthält eine mit § 16 Abs. 2 ArbZG vergleichbare Regelung, nach der der Arbeitgeber (nur) verpflichtet ist, die Überstunden seiner Mitarbeiter zu dokumentieren. Die Arbeitnehmerseite vertrat in dem Verfahren die Auffassung, dass dies nicht ausreiche; die Arbeitszeit der Mitarbeiter sei vollumfänglich aufzuzeichnen. Dies folge aus Art. 3, 5 und 6 Arbeitszeitrichtlinie sowie aus Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta. Der EuGH bestätigte dies und entschied, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzurichten, „mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Dies ergebe sich bereits daraus, dass die Mitgliedstaaten die „erforderlichen Maßnahmen“ zur Einhaltung der in der Arbeitszeitrichtlinie aufgestellten Mindestvorschriften gewährleisten müssen. Nur auf diese Weise könne das Ziel, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer sicherzustellen, erreicht werden. Andernfalls könne nicht garantiert werden, dass die zeitlichen Beschränkungen der Richtlinie und die in ihr verbürgten Arbeitnehmerrechte tatsächlich beachtet würden.
Was bedeutet das für die deutsche Rechtslage? Muss der nationale Gesetzgeber nach diesem Urteil nicht ohnehin tätig werden?
Nach gegenwärtiger Rechtslage ist der Arbeitgeber gem. § 16 Abs. 2 ArbZG zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten verpflichtet, die die Regelarbeitszeit von acht Stunden pro Tag überschreiten. In einigen Sonderbereichen gibt es jedoch weitergehende gesetzliche Aufzeichnungspflichten, nämlich insbesondere in § 17 MiLoG oder § 17c AÜG. Die derzeitige Gesetzeslage in Deutschland bleibt allerdings hinter den Anforderungen des EuGH zurück. Ob und welche Anpassungen vorzunehmen sind, wurde bereits in der inzwischen abgewählten Großen Koalition diskutiert, jedoch konnten sich die Parteien nicht mehr auf eine Änderung des ArbZG verständigen. Auch die „Ampel“ hat das Thema – wenig überraschend – auf dem Schirm. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu aber nur recht vorsichtig, dass geprüft werde, welchen Anpassungsbedarf die Koalitionäre angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sähen.
Gibt es in diesem Zusammenhang relevante Entscheidungen deutscher Gerichte?
Das ArbG Emden bejahte in einem ersten Urteil vom 20.2.2020 (2 Ca 94/19) eine unmittelbare Auswirkung der Entscheidung des EuGH auf die Arbeitgeber in Deutschland. Sofern ein Mitarbeiter die Vergütung von Überstunden geltend mache und einklage, könne der Arbeitgeber seiner sog. sekundären Beweislast nur entsprechen, wenn er der Pflicht zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der Arbeitszeit nachgekommen sei.
Am 24.9.2020 (2 Ca 144/20) hat dieselbe Kammer des ArbG Emden die obige Ansicht bestätigt, aber die Begründung angepasst – sicherlich auch eine Reaktion auf die mitunter heftige Kritik auf die erste Entscheidung im juristischen Schrifttum. Die Urteile des ArbG Emden sind Einzelfallentscheidungen geblieben und konnten die in zweiter Instanz mit entsprechenden Fragen befassten Landesarbeitsgerichte nicht überzeugen (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.2.2021 – 8 Sa 169/20; LAG Niedersachsen, Urt. v. 6.5.2021 – 5 Sa 1292/20).
Wie ist also der aktuelle Stand? Welche Pflichten bestehen für Arbeitgeber und was raten Sie diesen?
Trotz vieler offener Fragen und Unsicherheiten lässt sich festhalten, dass Arbeitgeber sich schon jetzt mit dem Thema Arbeitszeiterfassung bzw. Kontrolle der Arbeitszeit auseinandersetzen sollten, denn die Entscheidungen des ArbG Emden zeigen, dass die Nichtaufzeichnung von Arbeitszeiten insbesondere mit prozessualen Risiken behaftet ist. Eine unmittelbare Handlungsverpflichtung besteht meines Erachtens ohne eine konkrete gesetzliche Regelung, die die Grundsätze des Urteils des EuGH umsetzt, nicht. Natürlich sind die gegenwärtig schon geltenden gesetzlichen Bestimmungen von Arbeitgebern zu beachten, insbesondere denjenigen aus dem ArbZG.
Nachdem der Vorstoß des BMAS, eine umfängliche elektronische Zeiterfassung für einige Branchen durch die Hintertür einzuführen, gescheitert ist, soll die Bundesregierung inzwischen nur noch prüfen, ob eine solche elektronische Arbeitszeiterfassung technisch möglich und umsetzbar ist. In diesem Sinne heißt es schlicht abzuwarten, ob und wie sich die Ampel zusammenraufen wird. Am 4.5.2022 steht zudem beim BAG in einer Revision (5 AZR 359/21) ein Termin an, in dem darüber entschieden wird, ob und ggf. welche unmittelbaren Auswirkungen sich aus der Entscheidung des EuGH ergeben können. Diesen Termin sollten sich Arbeitgeber zumindest im Kalender notieren, da nicht auszuschließen ist, dass das BAG den Gesetzgeber de facto überholen wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Anne Politz.
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